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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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sie nur sehen konnte, wenn man nahe an die Reling herantrat und ein wenig seitwärts spähte. Ich glaube nicht, dass ich spähte, doch als ich einen Moment neben der Reling verweilte, wurde mein Blick von einem dunklen Objekt angezogen, das hinter dem Boot hervorragte und das ich auf einen zweiten Blick als Rockschoß eines Frauenkleides erkannte. Ich beugte mich kurz nach vorn, konnte aber trotzdem keinen besseren Blick erhaschen, was jedoch kaum einen Unterschied machte, da ich auch so wusste, dass es sich bei den Personen, die sich in einer so gemütlichen Ecke versteckt hielten, um Jasper Nettlepoint und Mr. Porterfields Verlobte handelte. Versteckt war derschrecklich angemessene Ausdruck, und ich bedauerte den Umstand, der von derart trauriger Geschmacklosigkeit zeugte. Ich wandte mich sogleich ab und fand mich im nächsten Moment dem Kapitän unseres Schiffes gegenüber. Ich hatte mich bereits mit ihm unterhalten – er war so freundlich gewesen, mich ebenso wie Mrs. Nettlepoint, ihren Sohn und die junge Dame, die sie begleitete, sowie Mrs. Peck an seinen Tisch einzuladen – und vergnügt festgestellt, dass seine Seemannskunst die Anmut eines sonnigen Gemüts besaß, welche auf Atlantikschiffen nicht häufig anzutreffen ist.
    »Die verschwenden keine Zeit – Ihre Freunde da drüben«, sagte er und nickte in die Richtung, in die er mich hatte blicken sehen.
    »Ach nun, sie haben auch keine zu verlieren.«
    »Meine Rede. Man sagte mir, sie habe keine zu verlieren.«
    Ich wollte etwas Entlastendes sagen, war aber unschlüssig, welchen Ton ich anschlagen sollte. So richtete ich einfach meinen unbestimmten Blick in die sternklare Dunkelheit und auf das scheinbar schlafende Meer. »Nun, in diesen herrlichen Nächten und dieser vollkommenen Seeluft werden die Leute dazu verführt, bis spät in die Nacht aufzubleiben.«
    »Ja, wir brauchen einen kleinen Sturm«, sagte der Kapitän.
    Ich zögerte. »Wie stark?«
    »Stark genug, um die Decks zu säubern!«
    Er war letztlich ziemlich wortkarg und ging weiter seiner Arbeit nach. Er hatte mich nervös gemacht, und anstatt hinunterzugehen, drehte ich noch ein paar Runden. Die anderen Spaziergänger verschwanden einer nach dem anderen – es waren alles Männer –, bis ich am Ende allein zurückblieb. Dann, nach einer Weile, räumte ich das Feld. Jasper und seine Gefährtin saßen noch immer hinter dem Rettungsboot. Ich persönlich mochte die gegenwärtigen Reisebedingungen sehr, doch als ich hinunterging, ertappte ich mich, aus welchem Grund auch immer – vielleicht infolge einer bloßen abergläubischen Empfindlichkeit –, bei dem nebulösen Wunsch, dass eine kräftige Brise aufkommen möge.
    Miss Mavis rückte, wie die Seeleute sagen, früh aus, denn am nächsten Morgen sah ich sie heraufkommen, kurz nachdem ich mein Frühstück beendet hatte, eine Zeremonie, bei der ich nicht zu trödeln pflegte. Sie war allein, und Jasper Nettlepoint war zufälligerweise gerade nicht an Deck, um ihr beizustehen. Ich ging ihr entgegen – sie war wie gewöhnlich mit ihrem Schultertuch, ihrem Sonnenschirm und einem Buch ausgerüstet –, nahm ihren Deckstuhl und stellte ihn im Heck des Schiffs auf, wo sie sich am liebsten aufhielt. Ich bot ihr an, ein wenig spazieren zu gehen, bevor sie sich setzte, und sie hakte sich bei mir ein, nachdem ich ihre Sachen auf ihrem Platz untergebracht hatte. Zu jener Stunde war das Deck leer und dasMorgenlicht fröhlich. Der Sinn stand einem mehr noch als sonst nach guten Vorzeichen und einer günstigen Brise. Ich habe vergessen, worüber wir uns anfangs unterhielten, weil die Situation ausgesprochen angenehm war. Ich konnte nicht umhin – ohne dass ich meine Begleiterin zu peinigen oder auf die Probe zu stellen beabsichtigte –, einen Augenblick später freudig dieselben Worte auszurufen, die ich, wie erwähnt, schon am ersten Tag geäußert hatte: »Nun, wir kommen voran, wir kommen voran!«
    »Ja, ich zähle die Stunden, jede einzelne.«
    »Die letzten Tage vergehen stets schneller«, sagte ich. »Und die letzten Stunden …«
    »Nun, was ist mit diesen?«, fragte sie, denn ich hatte mich instinktiv zurückgehalten.
    »Oh, dann ist man so froh, dass man fast meinen möchte, man sei bereits angekommen. Dennoch sollten wir nicht vergessen, dankbar zu sein, dass uns die Elemente so wohlgesonnen waren«, fügte ich hinzu. »Ich hoffe, Sie haben die Reise genossen.«
    Sie zögerte fast unmerklich. »Ja, viel mehr, als ich erwartet habe.«
    »Dachten
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