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Überfahrt mit Dame

Überfahrt mit Dame

Titel: Überfahrt mit Dame
Autoren: Henry James
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platzte sie ziemlich unvermittelt heraus: »Ich habe gesehen, wie Sie mit der Dame gesprochenhaben, die an unserem Tisch sitzt – die mit den vielen Kindern.«
    »Mrs. Peck? O ja, mit Mrs. Peck zu sprechen ist unvermeidlich.”
    »Kennen Sie sie gut?«
    »Nur wie man Leute auf See so kennt. Eine Bekanntschaft ergibt sich von allein. Das hat nicht viel zu bedeuten.«
    »Mit mir spricht sie nicht – sie könnte, wenn sie wollte.«
    »Sie sagt dasselbe von Ihnen – dass Sie mit ihr sprechen könnten.«
    »Oh, wenn sie darauf wartet!«, sagte meine Begleiterin lachend. Dann fügte sie hinzu: »Sie wohnt in unserer Straße, schräg gegenüber.«
    »Genau das ist der Grund, weshalb sie Sie für schüchtern oder hochmütig hält. Sie hat Sie oft gesehen und scheint viel über Sie zu wissen.«
    »Was weiß sie über mich?«
    »Ach, das müssen Sie sie selber fragen – ich kann es Ihnen nicht sagen!«
    »Mir ist egal, was sie weiß«, sagte meine junge Dame. Kurz darauf sprach sie weiter: »Sie muss bemerkt haben, dass ich nicht besonders gesellig bin.« Und dann: »Worüber lachen Sie?«, fragte sie.
    »Nun« – meine Belustigung war nicht leicht zu erklären –, »Sie sind nicht besonders gesellig, und Sie sind es irgendwie doch. Mrs. Peck ist es auf jeden Fall unddachte, dass es darum für Sie leichter wäre, ein Gespräch mit ihr zu beginnen.«
    »Oh, mir liegt nichts daran, mit ihr zu sprechen – ich weiß, worauf das hinausläuft.« Ich antwortete nicht – mir fiel wenig ein, was ich erwidern könnte –, und das Mädchen fuhr fort: »Ich weiß, was sie denkt, und ich weiß, was sie sagt.« Ich hielt mich noch immer zurück, merkte aber im nächsten Moment, dass meine Diskretion überflüssig war, denn Miss Mavis fragte ohne Umschweife: »Behauptet sie, Mr. Porterfield zu kennen?«
    »Nein, sie behauptet lediglich, eine Dame zu kennen, die ihn kennt.«
    »Ja, genau – Mrs. Jeremie. Mrs. Jeremie ist eine dumme Pute!« Ich war nicht in der Lage zu widersprechen, und kurz darauf sagte meine junge Dame, sie wolle sich setzen. Ich entließ sie in ihren Stuhl – ich merkte, dass es ihr so lieber war – und ging ein Stückchen weiter. Einige Minuten später traf ich erneut auf Jasper, der aus eigenem Antrieb stehen blieb und sagte: »Wir werden ungefähr um sechs Uhr abends am elften Reisetag ankommen – das versprechen sie.«
    »Natürlich nur, wenn nichts dazwischenkommt.«
    »Was soll denn schon dazwischenkommen?«
    »Genau das frag ich mich auch!« Ich wandte mich ab und ging mit der törichten, aber unschuldigen Befriedigung nach unten, ihn möglicherweise verwirrt zu haben.
Kapitel IV
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Sie müssen mir helfen«, sagte Mrs. Nettlepoint an jenem Abend zu mir, als ich bei ihr hereinschaute.
    »Ich werde mein Möglichstes tun – worum geht es denn?«
    »Sie war hier und hat geweint, dann ist sie gegangen – und hat mich damit ziemlich durcheinandergebracht.«
    »Geweint? Das sieht ihr gar nicht ähnlich.«
    »Genau, das ist es ja, was mich erschreckt hat. Sie kam heute Nachmittag herein, um nach mir zu sehen, so wie sie es schon früher getan hat, und wir sprachen über das Wetter und die Überfahrt und die Manieren der Stewardess und dergleichen Nichtigkeiten, und dann plötzlich, mittendrein, während sie dasaß, ohne erkennbare Ursache, brach sie in Tränen aus. Ich fragte sie, was ihr Kummer bereite, und versuchte sie zu trösten, aber sie erklärte sich nicht, sagte, es sei nichts, es läge am Meer, an der Monotonie, an der Aufregung, am Abschied von der Heimat. Ich fragte sie, ob es etwas mit ihrer Zukunft zu tun habe, mit ihrer Heirat, ob sie nun, da das Ereignis näher rücke, spüre, dass sie nicht mit dem Herzen dabei sei. Ich erklärte, sie müsse nicht nervös sein, ich könne mich in ihre Lage hineinversetzen – kurzum, ich tat, was ich konnte. Ihre einzige Antwort war, dass sie nervös sei, sehr nervös, aber das es auch schon wieder vorbei wäre. Dann sprangsie auf und küsste mich und verschwand. Sieht sie aus, als hätte sie geweint?«, fragte Mrs. Nettlepoint abschließend.
    »Wie soll ich das beurteilen, wo sie doch nie diesen grässlichen Schleier abnimmt? Es ist, als ob sie sich schämt, ihr Gesicht zu zeigen.«
    »Sie hebt sich das für Liverpool auf. Aber solche Zwischenfälle behagen mir nicht«, sagte Mrs. Nettlepoint. »Ich glaube, ich sollte nach oben gehen.«
    »Ist es das, wobei ich Ihnen helfen soll?«
    »Sicher, wenn Sie mir Ihren Arm reichen
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