Überflieger - Warum manche Menschen erfolgreich sind und andere nicht
bessergestellten Familien aus der Gegend hatten ihre Töchter dorthin geschickt, und
sie wusste, was eine gute Schule wert war. Ihre Töchter spielten nicht mit den anderen Kindern im Dorf, sondern lasen Bücher.
Da Latein und Mathematik Voraussetzung für den Besuch einer höheren Schule waren, ließ sie ihre Töchter von Erzdiakon Hay
unterrichten.
»Wenn du meine Mutter gefragt hättest, was sie sich für ihre Töchter wünscht, dann hätte sie gesagt, sie will, dass wir da
rauskommen«, erinnert sich meine Mutter. »Sie meinte, Jamaika habe uns nicht genug zu bieten. Wenn wir eine Möglichkeit hatten,
weiter |241| zur Schule zu gehen, und wenn wir diese Möglichkeit nutzen konnten, dann stand uns die ganze Welt offen.«
Als die Mädchen die Ergebnisse der Auswahlprüfung erhielten, sollte nur meine Tante ein Stipendium bekommen, nicht aber meine
Mutter. Das ist ein weiterer Punkt, den ich in meiner ersten Fassung ihrer Geschichte unterschlagen habe. Meine Mutter erinnert
sich, wie ihre Eltern in der Tür standen und sich unterhielten. »Wir haben kein Geld mehr.« Sie hatten die Schulgebühren für
das erste Jahr bezahlt, Uniformen gekauft und damit ihre Ersparnisse aufgezehrt. Was sollten sie tun, wenn sie die Rechnung
für das zweite Jahr meiner Mutter bekamen? Aber sie konnten doch schlecht die eine Tochter zur Schule schicken und die andere
nicht. Meine Großmutter blieb standhaft. Sie schickte einfach beide Mädchen und betete. Am Ende des ersten Jahres stellte
sich heraus, dass eine Klassenkameradin der beiden zwei Stipendien erhalten hatte, und das zweite Stipendium ging an meine
Mutter.
Als es ans Studieren ging, erhielt meine Tante das sogenannte Jahrhundertstipendium. Diesen Namen hatte das Stipendium erhalten,
weil es anlässlich des hundertsten Jahrestages der Befreiung der jamaikanischen Sklaven eingerichtet worden war. Daran, dass
jährlich nur ein einziges Jahrhundertstipendium für die gesamte Insel vorgesehen war, lässt sich ungefähr ablesen, wie wichtig
den britischen Kolonialherren die Erinnerung an die Abschaffung der Sklaverei auf Jamaika war. Das Stipendium war den Absolventen
von öffentlichen Grundschulen vorbehalten und ging abwechselnd an einen Jungen und ein Mädchen. Das Jahr, in dem sich meine
Tante bewarb, war ein »Mädchenjahr«. Sie hatte Glück, ihre Schwester nicht. Also musste meine Mutter die Kosten für die Überfahrt
nach England, Miete, Lebenshaltung und die Studiengebühren der University of London selbst aufbringen. Um eine Vorstellung
davon zu bekommen, um welche Summe es sich handelte: Das Jahrhundertstipendium, das meine Tante bekam, betrug etwa so viel
wie das Jahreseinkommen meiner beiden Großeltern zusammengenommen. Es gab damals noch keine staatlichen Ausbildungskredite |242| , und keine Privatbank hätte einem Lehrer auf dem Land ein Darlehen gegeben. Meine Mutter erinnert sich: »Wenn ich meinen
Vater gefragt hätte, dann hätte der mir geantwortet, ›Wir haben kein Geld.‹«
Was also tat Daisy? Sie ging zu einem chinesischen Ladenbesitzer im Nachbardorf. Auf Jamaika leben viele Chinesen, die seit
dem 19. Jahrhundert den Einzelhandel der Insel beherrschen. In Jamaika heißt ein Laden nicht einfach Laden, sondern »Chineeshop«.
Daisy ging also in den Chinee-shop eines gewissen Mr. Chance und lieh sich Geld. Niemand weiß, wie viel sie sich lieh, doch
es muss eine immense Summe gewesen sein. Und niemand weiß, warum Mr. Chance ihr das Geld lieh, außer natürlich, dass es sich
um Daisy Nation handelte, die ihre Rechnungen immer prompt bezahlte und an der Schule von Harewood die chinesischen Kinder
unterrichtete. Chinesische Kinder hatten auf jamaikanischen Schulhöfen kein leichtes Leben und wurden von ihren jamaikanischen
Mitschülern gehänselt: »
Chinee nyan dog
– Chinesen essen Hunde«, hieß es. Daisy war eine freundliche und beliebte Frau, eine Oase inmitten einer feindseligen Umwelt.
Vielleicht hatte Mr. Chance das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein.
»Ob sie mir erzählt hat, was sie getan hat? Ich habe sie nicht gefragt«, erzählt meine Mutter. »Es ist einfach so passiert.
Ich habe mich an der Universität beworben und einen Studienplatz bekommen. Ich hatte einfach das Vertrauen, dass ich mich
auf meine Mutter verlassen konnte, ohne mir bewusst zu sein, dass ich mich auf meine Mutter verlassen habe.«
Joyce Gladwell verdankt ihre Universitätsausbildung erstens William MacMillan,
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