Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
in Sicht. Ein Schwall Sekt steigt ihr in die Nase. Die Kuratorin zählt Namen auf. Menschen, denen gedankt werden muss. Jeder im Raum hebt einmal die Hand oder nickt in die Runde. Es scheint, als seien außer Britta und Karen überhaupt keine regulären Besucher hier.
»Ich muss Pipi«, sagt Britta.
»In der Kunst wird kein Pipi gemacht«, zischt Karen.
»Aber mein Horizont weitet sich gerade gar nicht. Nur meine Blase.«
Karen mag es nicht, wenn Britta während der Eröffnungsreden zum Klo geht. Britta weiß das. Außerdem knarren die Dielen so laut. Noch sieben Danksagungen wartet sie ab, dann streift sie heimlich ihre Schuhe von den Füßen und schleicht auf Socken zum Klo.
Merke ➙ Das Verhältnis von geladenen Gästen zu authentischen Besuchern verhält sich auf einer Vernissage ungefähr so wie das Verhältnis von Staatsangehörigen und Touristen in Nordkorea.
Als sie wiederkommt, beginnt die Kuratorin, deren Namen Britta bereits wieder vergessen hat, mit ihrer eigentlichen Rede. Ihr Tonfall verändert sich. Nun klingt es fast wie eine Predigt. Mit dem Unterschied, dass man den Pfarrer üblicherweise versteht.
»Die Wahrheit der Kunstwerke haftet daran, ob es ihnen gelingt, das mit dem Begriff Nichtidentische, nach dessen Maß Zufällige in ihrer immanenten Notwendigkeit zu absorbieren.«
»Um Himmels willen«, flüstert Britta und schlüpft wieder in ihre Schuhe.
»Pssst«, macht Karen.
Die Kuratorin liest weiter ihre Rede vor und verdreht dabei seltsam die Augen. Als hätte sie Schmerzen oder als sei sie erregt.
»Die Zweckmäßigkeit der Kunstwerke bedarf des Unzweckmäßigen. Ihre Zweckmäßigkeit muss durch ihr Anderes sich suspendieren, um zu bestehen.«
Britta entfährt ein Laut. Eine Mischung aus Husten und Kichern. Die Kuratorin wirft einen suchenden Blick über den Rand ihrer Brille. Ein paar der Frauen drehen sich um.
Karen schaut Britta böse an.
Britta flüstert: »Karen, sei doch ehrlich. Die Frau da vorne könnte genauso gut sagen: Blutwurst. Gelbgrüne Geflechte im Hosenschweiß. Blutwurst.«
Die Kuratorin sagt: »Die Kunstwerke strafen sich Lügen, indem sie die Objektivität dementieren, die sie herstellen.« Britta beobachtet die Männer von der Sparkasse und die Frauen, die sich alle überlegen, wie zum Teufel die Kuratorin es schafft, ständig auf 48 Kilo zu bleiben.
Die Kuratorin hebt die Hand und wirft den Kopf ein wenig nach hinten: »Wie – das ist die große Frage – wie kann man das verhindern? Wie ein Werk erreichen, das sich nicht selbst in die Ordnung der Dinge äquivalent einfügt, obschon es sie doch brechen, zersetzen, verwirren wollte?«
Die Frage ist rhetorisch. Die Menschen haben keine Antwort. Die Antwort wartet ja auch da drüben, hinter der Tür des Saals. Da braucht man sich vorher nicht groß unnötig mit Nachdenken anzustrengen.
»Miguel Meyrink hat sich über diese Frage Gedanken gemacht …«
Die Stimme der Kuratorin verändert sich von pastoral zu passioniert. Kaum ist der Name des Künstlers über ihre Lippen gegangen, zittern sie zwischen den Worten im halb geöffneten Zustand. Es scheint, als sei sie nun tatsächlich erregt. Fragt sich überhaupt, wo er ist, der Künstler, auf seiner eigenen Vernissage.
»… und er ist zu einer möglichen Antwort gelangt. Meine Damen und Herren, ergeben Sie sich mit mir einem visionären Künstler. Denn: Er weiß. «
Die Kuratorin öffnet die Tür des großen Saals. Der Raum ist fast quadratisch. Britta schätzt 18 mal 20 Meter. In der Mitte sitzt Miguel Meyrink im Schneidersitz auf einem winzigen weißen Kissen. Man sieht es kaum. Es polstert allenfalls seinen Steiß. Der Mann trägt eine weiße Hose, weiße Socken und ein weißes T-Shirt. Sein Gesicht ist weiß geschminkt und seine Haare sind weiß gefärbt. Der Boden ist mit weißer Folie belegt. Wände und Decke wurden bis in den letzten Winkel hinein weiß gestrichen. Der ganze Raum sieht aus wie eine leere Box. Außer Meyrink ist nichts drin. Er hat die Augen geschlossen und tut so, als würde er meditieren. Seine Lider sind ebenfalls weiß geschminkt. Würde er blinzeln, wäre die Farbe seiner Augen für eine Millisekunde das einzig Dunkle im Raum.
Vorsichtig betreten die Menschen den Saal. Umkreisen den Aktionskünstler wie ein Schwarm, mit jeder Kreisbewegung einen halben Meter näher. Karen scheint fasziniert. Die Kuratorin seufzt und schaut Meyrink an, als wolle sie seine auf 14 Tage angelegte Dauermeditation am liebsten sofort unterbrechen,
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