Überleben auf Partys: Expeditionen ins Feierland (German Edition)
Deckung. Im Obergeschoss des Ostflügels geht das Licht an.
»Da wohnt er also, wenn er nicht sitzt«, haucht Karen.
»Ja. Und macht sich jetzt schön Nutellabrot zu den Doku-Soaps.«
»Schlafen wird er. Oder seine nächste Aktion ausdenken.«
»Der pennt den ganzen Tag im Sitzen.«
»Banausin! Banausin! Banausin!«
»Guck«, sagt Britta, obwohl sie nicht genau weiß, ob sie richtig sieht, »blaues Licht. Von einem Fernseher. Es flackert schon.«
Merke ➙ Es gibt zwei Wege, mit kompromissloser Kunst glücklich zu sein. Erstens: so tun, als sei ihr Urheber sowieso nicht wichtig und als zähle nur die Sache. Zweitens: den Künstler nur danach bewerten, was er macht, wenn er arbeitet und ihn nach Feierabend Privatmensch sein zu lassen.
»Hier«, ruft Karen ein paar Tage später, als sie bei Britta zu Gast ist. Sie zeigt auf den Fernseher. In der Küche zapft Britta Cappuccinos unter Van Goghs Café.
»Da ist sogar ein Bericht auf 3sat!«
Sie dreht lauter. Der weiße Balken auf dem Bildschirm wächst nach rechts.
»… unterläuft Miguel Meyrink sämtliche Erwartungen, die man in konventioneller Weise an Kunst haben kann und eröffnet ein wahres Projektionsfeld an Assoziationen. Sozusagen eine weiße Wand, auf die man selber schreiben kann.«
Britta reicht Karen den Cappuccino.
»Wenn der Meyrink selbst das sieht, der lacht sich kaputt.«
»Britta, bloß weil du allen, die um die Ecke denken, Heuchelei unterstellst …«
»Die denken nicht um die Ecke. Die machen es sich einfach.«
»Sie glauben an neue Wege!«
»Nutellabrötchen und Doku-Soaps. Würdest du mir dann glauben?«
»Das musst du erst mal beweisen.«
Britta umfasst das warme Glas mit beiden Händen, schaut zum Dali-Druck über dem Sofa und sagt: »Okay.«
Karen registriert ihren alten übermütigen Blick aus der Schulzeit und weiß, dass es eine lange Nacht werden kann.
Um ein Uhr rollen die Frauen in Schrittgeschwindigkeit auf die Zufahrt neben dem Ostflügel des Schlosses. Die Scheinwerfer des Malerwagens mit der Hebebühne darauf sind auf Parklicht eingestellt. Fünf Minuten später erscheinen im Fenster von Miguel Meyrinks Künstlerappartement unter einem leisen Surren die Köpfe zweier Frauen. Er bemerkt es nicht, denn sein Blick ist auf den Fernseher fixiert, während er langsam und mit braunen Flecken in den Mundwinkeln an seinem Nutellabrötchen kaut. Auf dem Bildschirm hetzt ein extrem muskulöser, tätowierter Mann mit schwarzem Pferdeschwanz und klobiger Panzerkette an parkenden Autos vorbei Richtung zweier Schläger, die einen harmlosen Mieter bedrohen. Der muskulöse Mann heißt Carsten Stahl.
»Privatdetektive im Einsatz«, klärt Britta ihre Freundin, die fassungslos neben ihr im Hebebühnenkasten hockt, über die Sendung auf.
»Zugriff! Zugriff!«, befiehlt Carsten Stahl und ringt die Schläger nieder. Miguel Meyrink lacht und geht im Sessel mit. Er imitiert die Bewegungen des Muskelmanns mit euphorischen Zuckungen.
»Er guckt das nur, weil er sich informieren muss«, sagt Karen. »Er will wissen, welche Abgründe sich im normalen Volk auftun, das so was guckt.«
Britta weiß, dass Karen nicht dran glaubt.
»Tut mir sehr leid«, sagt sie und drückt auf den Knopf. Mit einem leisen Surren sinken die Frauenköpfe draußen vor dem Fenster wieder in die Nacht hinab.
Die Finissage nach zwei Wochen ist der erste Moment, in dem Miguel Meyrink spricht. Die Kuratorin steht zitternd neben ihm und berührt jede Viertelsekunde ihre Brille. Die Herren von der Sparkasse sind froh, dass der Spuk vorbei ist. Die Damen freuen sich, dass die Kuratorin wenigstens endlich die 50-Kilo-Marke gerissen zu haben scheint.
»Das Schweigen«, sagt Meyrink bedeutungsschwanger, »das Schweigen als einzige Option im großen, nichtssagenden Lärm.«
Karen schaut ihn anders an als auf der Vernissage. Ihre Nasenflügel beben ein wenig. Ihr linker Fuß scharrt Dielenstaub. Britta und sie sind immer noch die einzigen Anwesenden, die nichts mit Sponsoren oder Presse zu tun haben. Meyrink macht eine Pause, schließt die Augen, legt die Hände zu einem Dreieck zusammen wie Angela Merkel und fügt hinzu: »Das Werk selbst, nicht erst die Illusion, die es erweckt, ist der ästhetische Schein.«
»Blutwurst!!!«, brüllt Karen aus heiterem Himmel. Selbst Britta ist überrascht. Sie wollte gerade ihre Schuhe ausziehen. »Gelbgrüne Geflechte im Hosenschweiß!«, schreit Karen, und alle gucken. »Blutwurst!!!«
Dann stapft sie zur großen alten Tür des
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