Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Verbindung zu einem früheren negativen Erlebnis, was in diesem Fall zur Auslösung des Musters »Kampf« führte.
All diese Schutzmechanismen waren phylogenetisch gesehen einmal sinnvoll angelegt. In manchen Gefahrensituationen mögen sie auch heute noch lebensrettend sein. Oft genug jedoch führen sie uns in die Irre.
Mutmacher 2
Wenn Sie sich in einer Risikosituation befinden, Gefahr lauert und starke Gefühle eine Rolle spielen, senken Sie zunächst einmal das Tempo und atmen Sie durch. Reagieren Sie nicht reflexartig sondern erlauben Sie sich, langsam zu denken und die Situation zu analysieren.
6. Die drei Phasen des Erlebens
Menschen, die in eine traumatische Situation geraten, durchlaufen in der Regel verschiedene Phasen des Erlebens. Die Reaktionen der Betroffenen gleichen sich in erstaunlichem Maße, egal ob die traumatische Situation kurz oder lang war. Sie spielen sich allerdings unterschiedlich schnell ab und zeichnen sich daher durch verschiedene Stadien der Reflexion aus. Deshalb möchte ich im Folgenden über Berichte von Entführungsopfern und meine Begegnungen mit einigen Betroffenen erzählen. Sämtliche Betroffene befanden sich lange Zeit in einer Ausnahmesituation, konnten daher ihre eigenen Reaktionen deutlicher erklären und einzelne Phasen besser voneinander unterscheiden als Menschen, die eine relativ kurz andauernde traumatische Situation erlebt haben wie etwa das Entgleisen des ICE -Zuges bei Eschede oder den 14 Minuten dauernden Amoklauf an einer Erfurter Schule.
Erste Phase: Ablehnung
Geschieht ein Überfall, eine Vergewaltigung, ein Unfall oder eine Naturkatastrophe, ist die erste Reaktion der Betroffenen ein Gefühl des Nicht-wahrhaben-Wollens. Man wird aus seinem Alltagsablauf so plötzlich herausgerissen, dass es zunächst nicht gelingt, sich auf die neue Situation einzustellen. Sie erscheint surreal. Man hält an seinem alten Plan fest und will die krasse Veränderung nicht akzeptieren. Es ist wie bei einem Drehschwindel. Stellen Sie sich vor, Sie haben sich eine Weile im Kreis gedreht und bleiben dann stehen. Für einen Moment entspricht Ihre Wahrnehmung noch immer der Drehung, obwohl Sie selbst längst innegehalten haben.
Unfallopfer sind beispielsweise häufig unmittelbar nach dem Ereignis mit dem Gedanken beschäftigt, dass sie doch jetzt unbedingt da und da hinmüssten, dass sie eigentlich gerade dieses und jenes erledigen wollten. Wir haben immer Pläne, wie die nächsten Minuten, Stunden oder sogar Tage ablaufen sollen, egal ob wir diese akribisch aufgeschrieben oder nur in Gedanken gefasst haben. Aus diesen Plänen sind wir nun herausgerissen, verspüren jedoch weiterhin den Drang, sie zu Ende zu führen. Betroffene sind im ersten Moment oftmals mehr erschüttert von der Tatsache, dass ihre Vorhaben durchkreuzt wurden, als von dem Ereignis an sich. Es ist leichter für uns, sich dem Gedanken zu stellen, dass der Besuch bei der Oma geplatzt ist, man nicht rechtzeitig zur Arbeit oder zu einem Treffen mit Freunden kommt, als die gesamte Tragweite des Unglücks zu erfassen.
Hinzu kommt in der Regel eine Art Ungläubigkeit, ein Nicht-fassen-Können dessen, was soeben passiert ist. Viele Schüler und Lehrer zum Beispiel, die die Ermordung einer Lehrerin am Franziskaneum von Meißen nicht unmittelbar erlebten, weil sie in benachbarten Klassenzimmern saßen, glaubten zunächst an einen Abiturientenscherz oder eine Inszenierung der Theater- AG , als sie die Schreie der verletzten Lehrerin hörten. Selbst als sie erste Anzeichen der schrecklichen Realität sahen wie etwa die Blutspur auf dem Flur, wollten viele von ihnen nicht glauben, was sie sahen. Ein schlimmes Ereignis wie ein Mord hat in unserer Alltagswahrnehmung zunächst einmal keinen Platz. Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Häufig äußern Betroffene nach einem solchen Vorfall, sie hätten sich gefühlt, als seien sie »im falschen Film«, als hätten sie das Ganze nur geträumt. Kaum jemand versteht in diesem Moment, was wirklich passiert ist.
Auch bei einer Entführung wird das Opfer plötzlich und meist vollkommen unerwartet aus einer Situation gerissen, in der es mit ganz anderen Gedanken und Handlungen beschäftigt war. Die kolumbianische Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt zum Beispiel war auf einer politischen Wahlkampftour und mit der Vorbereitung einer Rede beschäftigt, als sie unvermittelt in die Hände politischer Extremisten geriet. Diese verschleppten sie in den Urwald, es folgte eine
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