Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Kahneman forscht seit langem über die Prozesse der menschlichen Entscheidungsfindung und beschreibt in seinem Buch »Schnelles Denken, langsames Denken« die beiden Denksysteme, die dabei zum Tragen kommen. Mit einer einfachen Rechenaufgabe macht er deutlich, auf welche Weise wir diese benutzen:
Ein Tennisschläger und ein Tennisball kosten zusammen 110 Euro. Der Schläger kostet 100 Euro mehr als der Ball. Wie teuer ist der Ball?
System 1 (fast thinking) funktioniert schnell, intuitiv und ohne Anstrengung. Wir benutzen es zum Beispiel, wenn wir die Antwort auf eine einfache Frage geben, Gesichter von Bekannten erkennen oder eine gewohnte Strecke mit dem Auto entlang fahren.
80 Prozent der von Kahneman befragten Menschen zogen dieses System auch bei der Lösung der oben erwähnten Rechenaufgabe heran und antworteten spontan: 10 Euro. Diese Antwort ist falsch.
System 2 (slow thinking) dagegen funktioniert langsamer, es erfordert Aufmerksamkeit, Analyse und Reflektion. Wir benutzen es zum Beispiel, wenn wir die Antwort auf die Rechenaufgabe 18 mal 26 suchen oder uns mit der Frage auseinandersetzen, wie wir ein Bewerbungsschreiben Erfolg versprechend formulieren können.
Wenn man System 2 auch zur Lösung der Beispielaufgabe heranzieht, gelangt man zum richtigen Ergebnis: Der Tennisball kostet 5 Euro, der Schläger 105 Euro. Entscheidend war nämlich die Formulierung »kostet 100 Euro mehr «. Und die war den meisten Probanden schlicht durchgerutscht.
Kahneman konnte nachweisen, dass wir sogar systematisch falsche Entscheidungen treffen, wenn diese in einer unsicheren oder risikobehafteten Situation gefällt werden oder auf starken Gefühlszuständen basieren. Wir meinen dann, schnell reagieren zu müssen, und treffen eine intuitive, wenig durchdachte Entscheidung. Wir folgen also Denksystem 1. Sein Rat lautet: Wenn viel auf dem Spiel steht, Gefahr droht und Gefühle eine große Rolle spielen, sollten wir zunächst das Tempo senken und durchatmen. Anschließend sollten wir System 2 bei der Suche nach einer Lösung aktivieren, also nachdenken, die Situation analysieren und nach einem Ausweg suchen.
Wir müssen mit Unsicherheiten leben, und das können wir besser, wenn wir eine gewisse Risikokompetenz erlangt haben. Diese wiederum erlangen wir nur, indem wir uns mit einer Sache auseinandersetzen, uns schlau machen, abwägen und erst dann auf der Basis unserer Überlegungen eine Entscheidung treffen. Erst wenn wir solchermaßen eine Kompetenz erreicht haben, können wir uns auch auf unser Bauchgefühl verlassen. Wie ein routinierter Golfspieler, der beim Abschlag nicht mehr darüber nachdenken muss, wie er die Bewegung am besten durchführt, sondern nur noch darüber, wie er den Ball möglichst nahe ans Loch schlagen kann.
Nicht nur im Alltag, sondern gerade in extremen Lebenssituationen ist es also wichtig, erstens langsam zu denken und sich nicht nur auf die eigene Intuition zu verlassen, und zweitens auch die Sichtweise anderer Menschen korrigierend mit in die eigenen Entscheidungen einzubeziehen.
Ein dramatisches Beispiel für dieses impulsive Verhalten liefert das bereits erwähnte Grubenunglück von Borken. Die später geretteten Kumpel berichteten mir, wie auch sie nach der Explosion intuitiv sofort die Flucht ergreifen wollten. »Alles in dir drängt in Richtung Heimat«, erklärten sie, »da denkst du nicht mehr nach, da rennst du nur noch!« Mit »Heimat« ist in der Sprache der Bergleute der Ausgang der Grube gemeint, besonders in Gefahrensituationen das Symbol für Rettung und Sicherheit. Nach weniger als hundert Metern auf dem Weg zum Grubenausgang bemerkten sie jedoch einen Bergmann, der geschwächt auf dem Boden lag. Giftige Gase! Nur einem von ihnen gelang es, trotz allgemeiner Panik, ruhig und logisch zu denken. Er entschied gegen den instinktiven Erstimpuls, nicht ins Freie, sondern tiefer hinein in den Berg in einen Blindstollen zu flüchten, in dem sich noch atembare Luft befand. Diese Entscheidung rettete ihm und seinen fünf Freunden das Leben. Viele andere Bergleute bezahlten ihren Drang, Richtung Heimat zu laufen, mit dem Leben.
Dass menschliche Intuition ins Verderben führen kann, zeigte sich im November 2000 auch im österreichischen Kaprun. Beim Ausbruch eines Brandes im Führerstand der Gletscherbahn, die in einem Tunnel zum Stehen kam, starben 155 Menschen. Die meisten von ihnen, weil sie vom Feuer weg nach oben Richtung Bergstation stürzten – direkt hinein in die tödliche
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