Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
mitzumachen: Sie wurden in Anzüge gesteckt und in einen Raum geführt, in dem ein Plastik-Tannenbaum vor einem reich mit Speisen gedeckten Tisch stand. Dort sollten sie für eine Videoaufnahme posieren, die zeigen sollte, wie gut es ihnen ging. Die beiden Deutschen mussten eine vorbereitete Stellungnahme vorlesen, mit der sie sich für die vorzügliche Behandlung der Entführer bedanken und gleichzeitig von der Bundesregierung die Freilassung der Hamadi-Brüder fordern sollten. Nach dem gefilmten »Festmahl« hatten sich beide gründlich den Magen verdorben, wurden wieder in ihren schmutzigen Keller geworfen, bedroht und mit Schlägen malträtiert.
Wenn die Psyche in einer so schrecklichen Situation überleben will, muss sie Mittel und Wege finden, aus der Situation auszusteigen, um sich dabei zu regenerieren. Strübig und Kemptner etwa gestatteten sich kleine gedankliche Pausen, indem sie sich gegenseitig Kochrezepte erzählten. Am Beispiel »Königsberger Klopse« überlegten sie gemeinsam: »Sollen wir noch mehr Kapern dazutun? Reicht eine halbe Zitrone zum Abschmecken und Verfeinern der Soße, nehmen wir weißen oder schwarzen Pfeffer, machen wir Salz- oder Pellkartoffeln dazu?« Sie besprachen die passende Getränkeauswahl, malten sich den Duft des dampfenden Gerichts aus und deckten in ihrer Phantasie den Tisch mit hübschem Geschirr.
Ein andermal beschrieb der eine dem anderen, wie er einen Spaziergang an einem Frühlingstag in der Sonne auf einem bestimmten Weg unternahm, den er genau kannte, welche Bäume und Pflanzen er sah, wie sich der Boden anfühlte, wie die Temperatur war, welche Vogelstimmen er hören konnte und so weiter.
Auf diese Weise konnten die beiden Männer immer wieder für ein paar Augenblicke aus ihrer quälenden Situation aussteigen, ihre Psyche konnte sich erholen, sie konnten neue Kräfte sammeln.
Dank der Erkenntnisse der modernen Hirnforschung wissen wir heute, wie bereits erwähnt, dass die bloße Vorstellung, etwas zu tun, die gleichen Hirnareale aktiviert und oft auch die dazugehörigen Hormonausschüttungen in Gang setzt wie bei der tatsächlichen Durchführung des Vorhabens. Strübig und Kemptner haben – ohne dass sie darüber nachgedacht hätten – instinktiv das Richtige getan und das Notfallprogramm ihrer Psyche aktiviert.
Kontrolle zurückgewinnen
Der belastendste Faktor in traumatischen Situationen ist der Kontrollverlust. Daher hilft es, sich zumindest in kleinen Bereichen ein wenig Kontrolle zu erhalten oder zurückzugewinnen. Etwa, sich bewusst nur in einen bestimmten Teil des Raumes zu setzen oder eine Körperhaltung einzunehmen, die leicht von dem abweicht, was die Entführer verlangen. Vermeintliche Kleinigkeiten mit großer Wirkung für das eigene Selbstverständnis. Ingrid Betancourt zum Beispiel hat sich wiederholt nicht exakt an jene Stelle auf dem Boden gesetzt, die ihr die Entführer zugewiesen hatten, sondern einen halben Meter daneben. Strübig und Kemptner nahmen von einem bestimmten Bewacher kein Essen an. Dadurch konnten sie sich ein Stück innere Stärke, Selbständigkeit, Autonomie und Würde bewahren – eine wichtige Voraussetzung dafür, sich nicht aufzugeben, und für die Psyche lebensrettend.
Ingrid Betancourt schilderte in Interviews, dass sie während der sechsjährigen Gefangenschaft mehrmals Fluchtversuche unternommen hatte, obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass sie dafür von den Rebellen hart bestraft werden würde. Sie habe es einfach tun müssen, und zwar weniger aus der Überzeugung heraus, wirklich eine Chance zu haben, als aus dem starken inneren Drang, etwas für sich zu tun, sich selbst treu zu bleiben.
Um dieses partielle Selbständigkeits- und Kontrollgefühl zu erleben, reichen meist schon kleine Dinge; man sollte tunlichst vermeiden, sich offen gegen einen Entführer zu stellen. Die Devise heißt eher: nach außen kooperieren, sich innerlich jedoch kleine Freiheiten bewahren. Wie diese kleinen Freiheiten aussehen, hängt von der jeweiligen Lage der Betroffenen ab. Eine Gefängnisangestellte, die sich über viele Stunden in der Gewalt eines Häftlings befand, bevor sie von einem SEK -Kommando befreit wurde, erzählte mir, warum das erlittene Martyrium sie innerlich nicht gebrochen habe: »Ich habe die ganze Zeit über mit ihm geredet und hatte es immer in der Hand, worüber wir sprachen und worüber nicht. Er hat mich viel gefragt über meine Familie, aber ich habe ihm nur das erzählt, was ich wollte.«
Einer
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