Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Situation geraten, die uns starke Angst macht, weil wir glauben, sie nicht bewältigen zu können. Wir fühlen uns »starr vor Angst« und sind tatsächlich in diesen Momenten kaum in der Lage, uns zu bewegen. Eine Patientin berichtete mir einmal, dass sie in ihrem Haus im Erdgeschoss verdächtige Geräusche gehört habe, während sie selbst in der Badewanne im ersten Stock saß. Einige Tage zuvor war bei den Nachbarn eingebrochen worden, und da sie allein lebte, war ihr klar, dass unten ein Einbrecher zugange sein musste. Sie fühlte sich vollkommen gelähmt und war nicht in der Lage, die Polizei anzurufen oder sonst irgendetwas zu unternehmen. Sie war nicht in einmal fähig, sich abzutrocknen und anzuziehen, sondern verharrte zitternd in der Wanne, selbst dann noch, als längst wieder Stille eingekehrt war. Am Ende stellte sich heraus, dass eine streunende Katze hinter den Geräuschen gesteckt hatte.
Phylogenetisch handelt es sich bei diesem Totstellreflex um ein Konzept, das in Gefahrensituationen durchaus sinnvoll und erfolgreich sein kann. Wenn weder Kampf gegen einen übermächtigen Fressfeind möglich war noch die Flucht vor ihm gelingen konnte, war es sinnvoll, sich tot zu stellen. Dadurch konnte man mit etwas Glück »übersehen« werden. Ein solchermaßen bewusst herbeigeführter Totstellreflex hat einem meiner Patienten, einem Iraner, während des Krieges gegen das Nachbarland Irak das Leben gerettet. Der Mann war als Mitglied einer 25-köpfigen Spezialeinheit beauftragt worden, einen »strategisch wichtigen« Hügel einzunehmen. Der Trupp geriet in einen Hinterhalt, nur drei der Männer überlebten. Sie hatten die Körper der toten Kameraden über sich gelegt, sich nicht gerührt und ganz flach geatmet, sich also tot gestellt. Wenngleich ihm das in der konkreten Gefahrensituation das Leben gerettet hatte, führte das körperliche »Einfrieren« über Jahre hinweg auch zu einem Erstarren seiner Gefühle, was wiederum große Probleme im Zusammenleben mit seiner Familie nach sich zog.
Ein weiterer sinnvoller Mechanismus dieser »Manipulation« unseres Gehirns besteht darin, dass wir von der Vielfalt und Wucht der Informationen, die in der traumatischen Situation stecken, in der Regel vollkommen überfordert wären, müssten wir sie auf einmal aufnehmen. Stellen wir uns beispielsweise einen Menschen vor, der ein Erdbeben miterlebt. Er nimmt die Erschütterung wahr, sieht möglicherweise ein zusammenstürzendes Haus und rennt davon, um sich in Sicherheit zu bringen. Was dieses Ereignis für sein weiteres Leben bedeutet, kann er zunächst nicht in vollem Umfang ermessen. Dass er seine Kinder und seine Frau verloren hat, dass es kein Trinkwasser mehr gibt, dass möglicherweise eine Epidemie ausbrechen wird, dass seine Zeugnisse verloren sind und er große Schwierigkeiten haben wird, eine neue Arbeit zu finden, und so weiter. Wir könnten es nicht aushalten, würden wir auf einen Schlag alles begreifen, was da von einer Sekunde auf die andere geschehen ist. Der Mechanismus unseres Gehirns schützt uns also erst einmal vor der ganzen Dimension des Extremereignisses.
Auch andere Schutzmechanismen sind wirksam, zum Beispiel eine Schmerzunempfindlichkeit in den ersten Minuten. Selbst bei schlimmsten Verletzungen wie etwa dem Verlust eines Arms oder Beins können Betroffene auf die Wunde blicken, ohne Schmerz dabei zu empfinden.
Viele Menschen reagieren mit einem dieser drei alten Muster, Kampf, Flucht oder Totstellreflex, wenn sie an ein frühes Trauma erinnert werden. Meist ist es dabei so, dass eine bewusste Erinnerung an dieses Trauma nicht vorhanden ist, sondern dass der Körper sich eine Gefahr gemerkt hat und deswegen jetzt in einer an und für sich ungefährlichen Situation mit einer krassen Reaktion antwortet.
Der Geruch eines Männerparfums, den eine Frau wahrnimmt, während sie im Kino sitzt, kann zu einem Panikgefühl führen, so dass sie fluchtartig das Kino verlässt. Den Geruch hatte ihr Bewertungssystem, die Amygdala, als Gefahr erkannt und damit den Impuls zur Flucht ausgelöst, ohne dass die Frau sagen könnte, warum. Erst im Nachhinein wird ihr klar, dass sie diesen Geruch von ihrem Vergewaltiger kannte, der ihr vor über zehn Jahren Gewalt angetan hatte. Ich selbst habe einmal erlebt, dass eine Frau mich plötzlich auf einer Rolltreppe vollkommen unangemessen anfuhr, ich solle ihr nicht zu nahe kommen, obwohl zwischen ihr und mir eine Stufe frei war. Auch bei ihr gab es vermutlich eine
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