Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Rauchgaswolke. Die Handvoll Menschen, die dem Feuer entgegen ans untere Ende des Tunnels lief, überlebte.
Wenn wir nun noch einmal den Bogen zu Kahneman und den verschiedenen Denksystemen schlagen, können wir Folgendes erkennen: Der schnelle Impuls – raus aus dem Berg – war der tödliche; das etwas längere Innehalten, Nachdenken und Abwägen hat den anderen Bergleuten das Leben gerettet. Das ist, wie ich bereits ausgeführt habe, nicht einfach. Gerade wenn Entscheidungen in einer unsicheren, risikobehafteten oder stark emotionalen Situation getroffen werden müssen. Vor allem dann reagieren wir gerne im wahrsten Sinne kopflos, als sei unser Gehirn blockiert. Dass wir das tun, kommt nicht von ungefähr, sondern liegt an einem uralten Programm unserer Gene. In Überforderungssituationen werden wir häufig von diesem Programm geleitet, meist ohne dass wir uns dessen bewusst werden.
Uralte Instinkte
In einer extremen Situation fällt es den meisten Menschen schwer, ihre Gedanken zu ordnen. Sie handeln unter Schock, können kaum formulieren, was sie als Nächstes tun sollen. Noch Stunden danach können sie oft nicht lückenlos rekonstruieren, in welcher zeitlichen Reihenfolge was passiert ist. Dieses Phänomen, das die Betroffenen oft sehr verunsichert, macht entwicklungsgeschichtlich durchaus Sinn. Zur Erklärung muss man in der Menschheitsgeschichte weit zurückgehen. Vor Millionen von Jahren waren die Hirnstrukturen unserer Vorfahren noch nicht so ausgebildet wie heute. Auf Gefahrensituationen wurde ohne große Denkprozesse mit instinktiv-biologischen Prozessen reagiert. Es musste schnell gehen, man musste entweder angreifen, fliehen oder sich tot stellen.
Offensichtlich werden wir auch heute noch – nach Millionen Jahren Evolution – bei extremer Gefahr in unseren Verhaltensweisen von den menschheitsgeschichtlich früh entwickelten emotionalen Gehirnzentren beeinflusst, während die phylogenetisch jüngeren Gehirnzentren, die uns zu klarem, analytischem Denken befähigen, weitgehend ausgeschaltet beziehungsweise blockiert sind.
Mit den heutigen modernen bildgebenden Verfahren wie der funktionellen Magnetresonanztomografie (f MRT ) können wir einen Einblick nehmen in die neurobiologischen Abläufe emotionaler Prozesse (wer sich eingehender mit diesem Thema beschäftigen möchte, dem sei das Buch »Emotionsbezogene Psychotherapie« von Claas-Hinrich Lammers empfohlen). Dabei ist zu beobachten, dass starke Reize wie zum Beispiel ein Knall oder der Anblick eines Menschen, der ein Messer in der Hand hält, ohne Umweg über das Denkzentrum des Gehirns an die Amygdala (Mandelkern), den Sitz des emotionalen Gedächtnisses, geleitet wird. Die Amygdala bewertet dieses Geräusch oder Bild und startet bei Gefahr ein instinktives Reaktionsprogramm: Messer = Gefahr = besser weglaufen. Das Weiterleiten dieses Reizes an Hirnareale, die für übergeordnete Denkprozesse zuständig sind, wäre viel zu zeitaufwändig; unser Gehirn hat gelernt, dass bei lebensgefährlichen Reizen sofort reagiert werden muss, damit der Mensch überleben kann.
Ein beeindruckendes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die folgende Geschichte eines amerikanischen Vietnam-Veteranen, der sich eines Nachmittags gemeinsam mit seiner Freundin eine schöne Zeit auf dem Jahrmarkt machen wollte. Die beiden schlenderten zwischen den Buden umher und vergnügten sich bei einigen Karussellfahrten. Als sie an einem Popcorn-Stand vorbeikamen, schrie der Ex-Soldat seine Freundin mit weit aufgerissenen Augen unvermittelt an: »Wir müssen sofort weg von hier, sofort nach Hause!« Seine Freundin konnte die Panikreaktion nicht nachvollziehen, versuchte, ihn zu beruhigen. Was bloß war passiert? Die Geräusche, die bei der Herstellung von Popcorn erzeugt werden, hatten den Mann an seinen Einsatz in Vietnam erinnert, an das Knattern von Maschinengewehrsalven. Er selbst konnte in diesem Moment den Zusammenhang nicht sehen. Sein Gehirn aber hatte die Geräusche unter dem Stichwort »Gefahr« abgespeichert und ihn zu einer Reaktion manipuliert, als befände er sich in diesem Moment tatsächlich in der Situation, aus der er sofort fliehen müsse.
Ähnlich diesem Fluchtreflex funktioniert der uralte »Totstellreflex«, der bei heutigen Traumatisierten als »freeze« bezeichnet wird. Er bewirkt ein »Einfrieren« unserer Reaktionsfähigkeiten. Wir zeigen ihn häufig, wenn wir uns ausgeliefert fühlen, wenn wir ohnmächtig und hilflos sind, oder urplötzlich in eine
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