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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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sechs Jahre währende Leidenszeit mit enormen Gewaltmärschen von einem Versteck zum anderen. Der Unterschied zwischen ihrer bis dahin gelebten Realität und der neuen Gegenwart hätte nicht größer sein können. Von daher war es ihr unmöglich, diese neue Situation sofort zu begreifen, sie zu verstehen, geschweige denn, sie anzunehmen. Alles in ihr sträubte sich dagegen, sie wollte nicht wahrhaben, was geschehen war.
    Die Ablehnung der Situation ist in dieser Phase gekoppelt an die Hoffnung, das Leben möge schnell wieder in normale Bahnen zurückkehren. Während die ersten Gedanken, wie bereits erwähnt, meist um Vorhaben kreisen, die man nun nicht mehr zu Ende bringen kann, klammern sich die Betroffenen in den folgenden Tagen häufig an Rettungsphantasien oder überraschende Wendungen – im Fall Betancourt wäre dies etwa ein plötzliches Einsehen der Entführer gewesen, von ihren Plänen abzulassen. Alles, was einem schonungslos klarmachen würde, dass man sich in einer neuen Situation befindet, wird abgelehnt: Die entführte Person nimmt zum Beispiel kein Essen an, will nicht schlafen, nicht versuchen, sich zu arrangieren. Sie klammert sich an den Gedanken, dass dieser grauenhafte Spuk ganz schnell vorbei sein wird und man sich dementsprechend nicht mit der bedrohlichen Situation auseinandersetzen muss. Der Geist der Entführten ist sozusagen noch draußen in der gewohnten Welt, nur der Körper befindet sich in der Geiselsituation.
    Diese innere Ablehnungshaltung kostet die Betroffenen sehr viel Kraft. Da wir alle über unterschiedliche Kraftreserven verfügen, kann diese Phase unterschiedlich lange dauern. Nach Stunden, Tagen oder manchmal auch erst nach Wochen erlahmen jedoch bei jedem die Widerstandskräfte. Man hört auf, sich gegen die Situation aufzulehnen, wird antriebslos und resigniert. Damit beginnt die zweite Phase.
    Zweite Phase: Verzweiflung und Depression
    Jede Extremsituation – egal ob es sich dabei um einen Unfall, eine Naturkatastrophe, die Begegnung mit dem Tod und so weiter handelt – ist für die Betroffenen mit dem Gefühl des Kontrollverlusts verbunden. Menschen geraten plötzlich in eine Lage, die sie selbst nicht mehr beeinflussen können. Wenn klar geworden ist, dass es keinen Ausweg aus der Situation gibt, man komplett die Kontrolle verloren hat und – wie im Fall von Betancourt – der Willkür der Täter vollkommen ausgeliefert ist, stellen sich bei den Betroffenen Hilflosigkeit und Ohnmachtsgefühle ein. Sie realisieren, dass sie sich mit dem Gedanken an ein schnelles Ende der Geiselnahme etwas vorgemacht haben, und fallen psychisch in ein tiefes Loch. Die bittere Erkenntnis, über das eigene Schicksal nicht mehr bestimmen zu können und vielleicht sogar mit dem Tod bedroht zu sein, führt zu einer Mischung aus starker Unruhe, Panik und Verzweiflung, Erschöpfung und Depression. In dieser Phase lassen sich viele Opfer gehen, sie pflegen sich nicht mehr und tun nichts, was ihnen den Alltag wenigstens minimal erleichtern würde. Dunkle Gedanken übernehmen die Regie, häufig reflektieren die Betroffenen über ihr eigenes Ende, die Hoffnung auf einen positiven Ausgang schwindet. Je länger diese Zeit dauert, desto schwieriger wird es, einen Weg aus Verzweiflung und Depression zu finden.
    Dritte Phase: Akzeptieren oder Zerbrechen
    Die Zeit des Übergangs zur dritten Phase ist eine besonders sensible, in der sich entscheidet, ob die Chance für eine Bewältigung besteht oder ein Weg eingeschlagen wird, der zum Scheitern führt und erhebliches psychisches Leid nach sich zieht.
    Die notwendige Voraussetzung für den »erfolgreichen« Weg ist die innere Entscheidung des Betroffenen, die Situation, in der er sich befindet, zumindest für einen gewissen Zeitraum anzunehmen. Die Basis dafür ist im Grunde eine Vereinbarung mit sich selbst: »Ich kann jetzt im Moment nicht aus dieser Lage heraus und versuche daher, das Beste daraus zu machen.« Ingrid Betancourt gelang es relativ schnell, zu sich zu sagen: »Ich bin in der Hand der FARC -Rebellen, diese Menschen wollen mir nichts Gutes und halten mich in Urwaldverstecken gefangen. Sie wollen mit mir etwas erreichen, ich sitze hier aus einem ganz bestimmten Grund, wenn sie mich umbringen wollten, hätten sie das schon getan. Ich muss und will versuchen, mit dieser erbärmlichen Lage klarzukommen!«
    Hat man für sich diese neue Basis geschaffen, kann man sich besser arrangieren, zum Beispiel indem man sich kleine Bereiche der Kontrolle

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