Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
(erwachsenes) Ich, kann man sich mit dieser Person verbünden, sich von ihr Trost und Beistand spenden lassen und darauf bauen, dass sie später eine Lösung finden wird. Mit diesem Glauben lässt sich die quälende Gegenwart besser ertragen.
Nicht nur das Vertrauen auf eine Form des eigenen Ich, sondern auch die Konzentration auf eine mögliche Hilfestellung von außen kann die eigenen Kräfte aktivieren. Das Grubenunglück von Borken im Jahr 1988, bei dem 51 Bergleute entweder sofort durch die gewaltige zerstörerische Kraft der Explosion getötet wurden oder innerhalb weniger Minuten durch giftige Gase starben, ist dafür ein gutes Beispiel.
Die sechs Bergleute, die sich in einen Blindstollen gerettet hatten, fühlten sich zunächst von allem abgeschnitten. Tief drinnen im Berg hockten sie im Dunkeln, nur ab und zu konnten sie eine Helmlampe anmachen. Die einzige Verpflegung war eine Flasche Cola und ein Brot für alle. Es gab keinen Funkverkehr nach oben, sie kamen sich von Gott und der Welt verlassen vor. Einige Meter entfernt sahen die Männer tote Ratten liegen, die aufgrund der giftigen Gase erstickt waren. Jeder von ihnen wusste, dass diese unsichtbare tödliche Grenze stetig näher rückte, da die Gase sich ausdehnten. Im Minutentakt nahmen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu. Einige der Bergleute kritzelten schon ihr Testament und letzte Nachrichten für die Angehörigen an die Wände des Stollens. Nur einer von ihnen war felsenfest davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis sie von Rettungstrupps hier rausgeholt würden. Er versicherte den anderen immer wieder, sie bräuchten kein Testament zu machen, sie würden gerettet werden.
Mit dieser unerschütterlichen Haltung bewahrte er nicht nur die anderen Kumpel davor, sich aufzugeben, er selbst profitierte offenbar am meisten davon. Als sich ein Rettungstrupp nach 72 Stunden tatsächlich zu den Eingeschlossenen vorgearbeitet hatte und die sechs Männer einer nach dem anderen mit einer Rettungskapsel ans Tageslicht befördert wurden, machte ich eine erstaunliche Beobachtung: Während fünf Bergleute – geschwächt und schwer gezeichnet – sofort auf Tragen gelegt werden mussten, ging besagter Kumpel allein und ohne gestützt zu werden auf die aufgereihten Mikrofone der Weltpresse zu: »Die wollten schon ihr Testament machen da unten, ich sprech, ihr braucht keins zu machen!« Er hatte mit seinem festen Glauben an die kommende Hilfe der Grubenwehrkollegen nicht nur sich und die anderen psychisch stabilisiert; sein Körper hatte dadurch offensichtlich so viel Kraft gewonnen, dass er als Einziger in der Lage war, noch selbständig und aufrecht zu gehen.
Das Schreckliche benennen
Wenn ich Menschen nach Katastrophen über einen längeren Zeitraum betreut habe, habe ich mich oft gefragt, warum die einen es besser schafften, während die anderen so große Schwierigkeiten bei der Bewältigung hatten.
In Gesprächen mit vielen Katastrophen-, Unfall-, Entführungs- und Gewaltopfern, deren übermenschlich erscheinenden Fähigkeiten im Umgang mit der Krise auch bei mir großes Erstaunen ausgelöst haben, ist mir aufgefallen, dass diese sich allesamt relativ schnell in ihre Situation hineingefunden und das Schreckliche benannt haben. Dieses Benennen ist eine Vorstufe der Akzeptanz, eine zwar schmerzvolle, aber sehr wirksame Maßnahme, sowohl während der Krise als auch danach auf dem langen Weg der Bewältigung. Ein Lehrer zum Beispiel, der einen Amoklauf an seiner Schule erlebte, sagte sich, noch während er mit seiner Klasse auf Rettung wartete: »Ich bin Zeuge eines fürchterlichen Amoklaufs, einige meiner Kollegen sind tot, ich muss jetzt für meine Schüler sorgen!«
Durch das unmittelbare und schonungslose Benennen der Realität ist es ihm gelungen, angesichts der enorm belastenden Stresssituation einen kühlen Kopf zu bewahren. Er ist nicht in Schockstarre verfallen, sondern handlungsfähig geblieben. Das Bewahren der Handlungsfähigkeit setzt Kräfte frei, die in der Situation und darüber hinaus eine positive Wirkung haben. Diese Haltung bietet außerdem einen weitgehenden Schutz vor Dissoziationen, also dem mentalen Aussteigen aus der Situation. Obwohl Dissoziationen für unsere Psyche eine Art Notschalter sind, der bei Bedarf umgelegt werden und uns in der Akutsituation vor einer Überforderung schützen kann, wissen wir, dass Menschen, die in einer Belastungslage dissoziieren, später ein größeres Risiko haben, Folgestörungen zu
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