Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Psychiatriepflegerin, die stundenlang von einem Patienten bedroht und vergewaltigt wurde, half der Gedanke an ihren Verlobten. Sie trug einen Ring mit einem blauen Stein, ein Geschenk ihres zukünftigen Mannes, und stellte sich vor, dass ihr Verlobter sie durch diesen Stein hindurch anschaute. Wenn sie selbst den Blick auf den Ring richtete, hatte sie das Gefühl, ihm in die Augen zu sehen. Als sie sich in einer Situation fast aufgegeben hätte und vollkommen verzweifelt weinte, dreht sie den Stein nach innen – ihr Verlobter sollte sie nicht so sehen. Doch dann nahm sie sich vor, wieder stark zu sein, und drehte den Ring erneut um. Von diesem Moment an wich sie von den Anweisungen des Vergewaltigers immer ein bisschen mehr ab; sie legte sich zum Beispiel etwas anders hin, als er es befohlen hatte und behielt so ein Stück ihrer Autonomie und inneren Würde.
Diese unterschiedlichen Strategien der Opfer haben eines gemeinsam: Sie alle haben mit ihrem Verhalten den Zustand der totalen Unterwerfung und Selbstaufgabe vermieden. Für Ingrid Betancourt oder die Libanon-Geiseln war das letztendlich der entscheidende Schlüssel für das Überleben in einer quälend lang anhaltenden Krisensituation. Die psychologische Aufarbeitung ihrer erlittenen Traumata konnte anschließend darauf aufbauen, dass sie für sich Stärke gezeigt hatten. Die Chancen für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem Geschehenen stehen in diesen Fällen deutlich besser, als bei Menschen, die sich bereits während der Extremsituation aufgegeben und nur noch als schwach erlebt haben.
Die eigenen Kräfte wecken
Natascha Kampusch wurde 1988 im Alter von zehn Jahren gekidnappt und für 3096 Tage in einem kleinen unterirdischen Verlies gefangen gehalten. Sie hatte in den ersten Jahren keinerlei Kontakte zur Außenwelt, die einzige Bezugsperson war der Entführer. Später durfte sie sich in einem exakt festgelegten Rahmen bewegen, oben im Haus, hin und wieder im Garten. Nach einem unsagbaren, langen Martyrium konnte sie sich selbst befreien, indem sie ihrem Peiniger in einem unbeobachteten Moment weglief. Der nahm sich noch am selben Tag das Leben.
Als Kind verfügte sie in den ersten Jahren ihrer Gefangenschaft weder über die notwendigen körperlichen noch über die psychischen Kräfte, um sich gegen den Entführer aufzulehnen oder sich gar zu befreien. Sie war vollkommen auf sich allein gestellt, auch als es darum ging, sich zu stabilisieren. Natascha habe, wie mir ihre Mutter in einem persönlichen Gespräch erklärte, schon als Kind eine starke individuelle Persönlichkeit gehabt. Dadurch war sie offenbar in der Lage, eine gedankliche Strategie zu entwickeln, mit der sie später verborgene eigene Kräfte wecken konnte. Und zwar indem sie einen »Pakt mit sich selbst« schloss. Sie stellte sich vor, wie sie als erwachsene Frau sein würde. Diese Frau wäre stark und mutig und würde das Kind Natascha eines Tages aus dem Verlies in die Freiheit führen. Sie sagte zu sich selbst: »Ich, die starke Frau, die ich in Zukunft sein werde, stehe dir jetzt schon bei, ich tröste dich und ich werde dir helfen, dich zu befreien!«
Ohne zu wissen, dass diese Strategie bei der Therapie traumatisierter Menschen tatsächlich eine wichtige Rolle spielt, wandte das Kind in Gefangenschaft diese hilfreiche Methode an. Natascha suchte und fand eine starke Ressource in sich selbst und konnte damit ihre Verzweiflung überwinden. Eine aus psychologischer Sicht erstaunliche und bewundernswerte Leistung eines Kindes, das versucht, in einer ausweglosen beziehungsweise so erscheinenden Situation zu überleben.
Viktor Frankl, ein österreichischer Psychologe, der während des Zweiten Weltkriegs unter grauenvollsten Bedingungen in einem Konzentrationslager inhaftiert war, wandte eine ähnliche Strategie an, um am Leben zu bleiben. Er malte sich immer wieder aus, wie er eines Tages Vorlesungen über die Auswirkungen dieses unmenschlichen Systems auf die Psyche der Menschen halten werde, und zog daraus die Kraft durchzuhalten.
Die Vorstellung, wie man selbst in Zukunft sein wird, wenn man aus der belastenden Situation herausgekommen ist, scheint nicht nur tröstlich, sie ist auch Quell neuer Kräfte. Wenn man sich in einer Lage befindet, aus der man momentan keinen Ausweg weiß, ist es sinnvoll und hilfreich, sich vorzustellen, dass man irgendwann über die Fähigkeiten verfügen wird, diese Situation erfolgreich aufzulösen. Wählt man wie Natascha Kampusch ein anderes
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