Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
entwickeln.
Mit dem Benennen des Schrecklichen und dem Anerkennen der Realität bleiben wir handlungsfähig, im Hier und Jetzt verankert und an der Situation orientiert. Dadurch ist man zwar für den Moment sehr viel näher am Leid dran, langfristig kann man sich jedoch rascher lösen. Wer sich hingegen in eine Scheinwelt flüchtet und die Augen vor der Realität verschließt, für den ist die Bewältigung des Geschehenen schwerer, die Konfrontation mit dem Erlebten erscheint dann noch bitterer. Der Volksmund weiß das längst: »Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende!« Und ein altes chinesisches Sprichwort lautet: »Wenn man in der Dunkelheit sitzt, sollte man, statt fortwährend zu klagen, besser eine Kerze anzünden.« Solange man nur über die Dunkelheit klagt, kann man nichts ändern. Erst wenn man anerkennt, dass man in der Dunkelheit sitzt, und dies unerträglich findet, kann man einen Plan entwickeln, wie eine Kerze und Streichhölzer aufzutreiben sind.
Das Benennen der Realität ist nicht nur in Extremsituationen ein wichtiger Schritt. Den Kopf in den Sand zu stecken, macht es auch im Alltag nicht leichter. Die Probleme lösen sich dadurch schließlich nur selten in Luft auf. Wie bereits erwähnt, lassen sich letztendlich alle Situationen, in denen wir uns bedrängt oder überfordert fühlen, nur durch radikale Akzeptanz in den Griff bekommen; erst dadurch werden sie erträglich, nur so können wir tatsächlich einen Ausweg finden.
Menschen wie die hier vorgestellten haben mit ihrer Fähigkeit, die Dinge zu benennen, eine wichtige Eigenschaft gezeigt, die das Überleben der Menschheit in Zeiten von Naturkatastrophen, Hungersnöten, Kriegen und Gewaltsituationen ermöglicht hat. Ich bin davon überzeugt, dass wir alle diese Überlebensgene in uns tragen, dass wir aber durch die Errungenschaften der Zivilisation und das bequeme Leben im Wohlstand kaum noch Zugang dazu haben. Wir sind gewissermaßen verweichlicht und wehren uns dagegen, uns mit einer so elementaren Frage wie der des Überlebens oder Scheiterns auseinanderzusetzen. Wir finden es selbstverständlich, immer vor Unbill geschützt zu sein, und machen uns eher Gedanken darüber, wie wir unser Leben noch leichter, noch angenehmer, luxuriöser und genussreicher gestalten können. Werden wir dann plötzlich mit einer schrecklichen Situation konfrontiert, fehlt uns das Rüstzeug, dieser ins Auge zu sehen.
Wir sollten also lernen, frühzeitig in einen inneren Dialog mit uns zu treten, der uns auf solche Erfahrungen vorbereitet. Das muss keine Geiselnahme sein, jeder von uns ist im Laufe seines Lebens zum Beispiel mit Verlusten konfrontiert. Vielen Menschen fällt es sehr schwer auszusprechen, dass ein naher Angehöriger gestorben ist. Sie vermeiden es, explizit vom Tod zu sprechen, und nutzen Umschreibungen. Letztlich ist dies eine Form des Nicht-wahrhaben-Wollens, die das Ertragen des Verlustes erschwert. Auch hier gilt: Das Benennen des Schrecklichen macht das Schreckliche mit jedem Benennen ein Stück weniger schrecklich. Es erscheint von Mal zu Mal etwas weniger grell, weniger laut, weniger heftig; es wird blasser, leiser und weniger schmerzhaft, je öfter wir aussprechen, was uns widerfahren ist.
Kinder haben es in ihrer Unbefangenheit manchmal leichter, auch schwierige und mit Tabus belegte Themen offen anzusprechen und das Schreckliche zu benennen. Ich selbst habe mit vielen Eltern gearbeitet, deren Kinder unheilbar krank waren. Sie waren oft so verzweifelt und verbittert über ihr Schicksal und das ihrer Kinder, dass sie nicht in der Lage waren, mit diesen darüber zu sprechen, obwohl die Kinder selbst spürten, dass sie sterben würden. Wenn ich mit diesen Kindern allein sprach, wurde schnell deutlich – etwa durch Zeichnungen, die sie anfertigten –, dass sie sich schon lange mit dem eigenen Tod beschäftigten. Es war ihnen ein Bedürfnis, über ihre Vorstellungen von Tod und über das, was möglicherweise danach auf sie zukommen würde, zu sprechen. Gleichzeitig fiel es ihnen sehr schwer, sich mit den Eltern darüber zu verständigen, weil sie ihnen nicht noch mehr Kummer bereiten wollten.
Ein Junge, der mich sehr beeindruckt hat, der 13-jährige Daniel, litt an einer unheilbaren Krebserkrankung und war kräftemäßig schon sehr eingeschränkt. Er hatte mehrere Operationen und Bestrahlungen hinter sich, medizinisch war alles versucht worden, aber es gab keine Chance, ihn zu retten. Obwohl die Ärzte das wussten,
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