Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
brachten sie es nicht über das Herz, den Eltern reinen Wein einzuschenken, und kündigten immer noch eine weitere Behandlungsmöglichkeit an, die man – wenn auch mit »minimalen Erfolgsaussichten« – unbedingt probieren wolle. Auch die Eltern selbst wussten im Innersten, dass es für ihren Sohn keine Rettung gab, doch sie klammerten sich an die Aussagen der Ärzte und machten sich und dem Kind vor, es werde sich schon alles zum Guten wenden.
In dieser für alle Beteiligten sehr schweren Situation wurde ich vom Klinikleiter gebeten, mich um die Familie zu kümmern. Daniel war entlassen worden, um sich bis zur nächsten Behandlung zu erholen. Ich besuchte die Familie zuhause.
Der Vater hatte sich vollkommen zurückgezogen, war depressiv, sprach kaum noch und hatte sich in seine Arbeit geflüchtet. Die Mutter war verzweifelt, weil sie zusätzlich zu der schweren Belastung durch die Krankheit ihres Kindes darunter litt, dass sie mit ihrem Mann nicht darüber reden konnte. Sie weinte nächtelang, und tagsüber versuchte sie, vor dem Jungen stark, hoffnungsvoll und fröhlich zu wirken. Daniel war der Einzige, der nicht niedergeschlagen war. Er erzählte mir von seinen Hobbys, er liebte Fußball, Popmusik und »im Wald rumtoben«. Körperlich war er sehr geschwächt, konnte kaum noch laufen und nur wenige Stunden pro Tag außerhalb seines Bettes verbringen.
In Bildern malte er mir die Stationen seines Leidens auf – Zeichnungen vom Krankenhaus, Schwestern und Ärzte in weißen Kitteln, Spritzen, sich selbst mit einem anderen kranken Kind im Nachbarbett.
Nachdem ich ihn einige Male besucht hatte, äußerte er den Wunsch, mit mir in den Wald gehen zu dürfen. Die Mutter war skeptisch, ob er das schaffen würde, gab aber schließlich ihre Erlaubnis. Als ich klingelte, öffnete Daniel die Tür, ausgerüstet wie ein Trapper: mit Outdoor-Kleidung, Hut auf dem durch die letzte Bestrahlung kahlen Kopf, ein Messer am Gürtel, den Kompass in der Hand. Auch ein kleiner Rucksack mit Verpflegung stand bereit. Daniel wollte mit mir zu einer ganz bestimmten Stelle im Wald, die er besonders schön fand. Wir fuhren mit dem Auto zu einem Wanderparkplatz, von dort gingen wir zu Fuß weiter. Der Weg quer durch den Wald war sehr beschwerlich für ihn, ich musste ihn stützen, aber er kämpfte sich tapfer weiter bis zu einer Stelle, an der er sagte: »Wir sind da!« Es war eine schöne Lichtung, umgeben von großen Bäumen, ein Bach floss vorbei, ein kleines Idyll. Wir setzten uns, aßen und tranken etwas, sprachen aber nicht viel. Nach einer Weile stand Daniel mühsam auf, nahm sein Messer und machte sich an einem Baum zu schaffen. Er schnitzte etwas in die Rinde und ging von dort zu weiteren Bäumen, wo er das Gleiche tat. Als er fertig war, strahlte er mich an, und ich durfte sein Werk betrachten. Er hatte seine Initialen in den ersten Baum geschnitzt, in die anderen Bäume Kreuze. Er wirkte befreit, ruhig und erstaunlich reif für einen 13-Jährigen, als er zu mir sagte, ich wüsste doch so viel und ob ich ihm daher nicht auch sagen könne, wie es im Himmel aussehe. Er wollte wissen, ob er dort oben den ganzen Tag seine Lieblingssongs anhören könne und wie es sonst so sei. Seiner Mutter solle ich aber nichts davon sagen, sonst wäre sie so traurig. Sie solle ruhig weiter glauben, er wisse nicht, dass er bald im Himmel sein werde.
Bei unserem nächsten Treffen las ich ihm aus Astrid Lindgrens wunderschönem Kinderbuch »Die Brüder Löwenherz« vor, in dem sich die Autorin des Themas Tod annimmt und aufzeigt, wie Kinder die Angst vor dem Sterben überwinden und in eine andere Form des Daseins wechseln können. Und ich besprach mit Daniel die Sichtweise der bekannten Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross, die in kindgerechter und sehr hoffnungsvoller Weise erklärt, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist, sondern dass in der Natur immer etwas folgt, wenn etwas vergeht und sich alles in einem Kreislauf des Werdens und Vergehens befindet.
Später berichtete ich mit Daniels Erlaubnis den Eltern von unseren Gesprächen. Danach gelang es Mutter, Vater und Sohn, gemeinsam über Daniels bevorstehenden Tod zu reden; sie konnten wichtige Dinge klären und sich voneinander verabschieden. Daniel starb kurze Zeit später in einer friedlichen Familienatmosphäre, alles war ausgesprochen, keiner war innerlich zerrissen, weil er sich nach außen hatte anders geben müssen, als er sich innerlich fühlte.
Solche Erfahrungen sind schmerzhaft
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