Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
und tröstlich zugleich. Denn aus ihnen können wir viel lernen. Bei manchen Menschen setzt der Mechanismus, eine schlimme Realität anzuerkennen, automatisch ein, für andere ist es ein Prozess. Gelingt er, kann das Schreckliche viel von seinem Schrecken verlieren und uns letztlich stärken.
Rituale
Als im Jahr 2010 in der chilenischen Mine San José 33 Bergleute zehn Wochen lang 700 Meter unter der Erde in einem 52 Quadratmeter großen Schutzraum auf ihre Rettung warteten, wurde ich oft gefragt, wie es möglich sei, so etwas psychisch auszuhalten. Die meisten Menschen, die sich in das Schicksal der verschütteten Bergarbeiter hineinversetzten, bekamen schon bei dem Gedanken an die Enge, die vielen Personen auf begrenztem Raum, die Hitze, die mangelhafte Ernährung und die insgesamt quälende Ungewissheit, ob eine Rettung gelingen würde, Beklemmungsgefühle und Panikgedanken. Immer wieder hörte ich den Satz: »Das würde ich nie durchstehen!«
Auch die 33 Kumpel durchlebten während dieser Zeit depressive Einbrüche, einige hatten Suizidgedanken. Insgesamt jedoch bezeichneten die Psychologen vor Ort die Stimmung unter den Männern als verhältnismäßig gut, die meisten seien psychisch in einem erstaunlich stabilen Zustand.
Dafür war im Nachhinein betrachtet vor allem eines verantwortlich: feste Rituale, die den Eingeschlossenen Halt und Struktur gaben. Zu diesen Ritualen gehörten regelmäßige Gebete, die in einer bestimmten Ecke des Stollens abgehalten wurden. Außerdem wurden jeden Tag bestimmte Ziele vereinbart und Aufgaben verteilt, die man bewältigen wollte. Die einen räumten den anfallenden Bohrschutt weg, die zweite Gruppe verteilte das über die Versorgungsbohrung heruntergeschickte Material, die dritte pflegte die Schwachen oder Kranken.
In einer psychisch höchst belastenden Ausnahmesituation sind solche Rituale von großer Bedeutung. Die für viele Menschen wirksamste Art des Rituals ist sicherlich das Beten. Auch jemandem, der nicht an Gott glaubt und meint, er könne nicht beten, empfehle ich als Psychologe, es dennoch zu tun. Weniger aus dem Gedanken heraus, man könne ja nie wissen, ob es nützt oder nicht, sondern vielmehr aus der Erkenntnis, dass ein Mensch, der sich im Beten auf positive Kräfte konzentriert, seinen Geist immer dahingehend orientiert, diese Kräfte in sich zu entfalten und wirksam werden zu lassen.
Aber auch regelmäßige Mahlzeiten, Tagesbesprechungen, Bewegungsübungen oder Arbeitseinsätze bieten Orientierung, sie definieren kleine Ziele, an denen man sich »festhalten« kann. Zu diesen gemeinsamen Ritualen können individuelle kommen, etwa bestimmte sportliche Aktivitäten, Tagebuch schreiben, Achtsamkeits- oder Entspannungsübungen, die möglichst immer innerhalb eines festgelegten Zeitfensters durchgeführt werden sollten. Die über drei Jahre im Libanon festgehaltenen deutschen Geiseln Strübig und Kemptner etwa bekamen von ihren Entführern nur drei Zigaretten pro Tag zugeteilt. Diese rauchten sie zu genau definierten Zeiten – ein Ritual, das sie als Höhepunkt des Tages und Belohnung empfanden. Ebenso gehörte es in einem ihrer Verstecke zu ihrem festen Tagesablauf, einen blühenden Mandelbaum zu betrachten. In einem ihrer Kellerverstecke, dessen Oberlicht mit Folie verklebt war, hatten sie ein kleines Loch entdeckt, durch das man nach draußen sehen konnte – auf jenen Mandelbaum. Der Anblick stimmte sie zwar einerseits traurig, weil er ihnen ihre Gefangenschaft vor Augen führte, andererseits war er ein Symbol der Hoffnung und gab ihnen Kraft.
In Zeiten einer schweren Bedrohung oder Belastung laufen Menschen leicht Gefahr, innerlich vor dem übergroßen Druck zu kapitulieren und nur noch passive Opfer der Situation zu werden. Sie lassen sich hängen, haben keine Erfolgserlebnisse mehr, empfinden die Aussichtslosigkeit immer extremer und versinken in Depressionen. Die Durchführung von strukturierenden Ritualen erfordert von den Betroffenen jedes Mal aktives Handeln. Wenn man diese Rituale auch in Momenten durchführt, in denen man an deren Sinn zweifelt oder schlicht keine Lust hat, bewirkt das eine enorme psychische Stabilisierung. Man überwindet eine innere Schwäche, kämpft erfolgreich gegen das Aufgeben an und hat anschließend das Gefühl, etwas geschafft zu haben. Die meisten Menschen kennen die Euphorie, wenn man den »inneren Schweinehund« – etwa beim Sport – überwunden hat. Für Menschen in Extremsituationen ist diese Überwindung des
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