Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
inneren Schweinehunds die Bestätigung, noch ein aktiv Handelnder zu sein, nicht nur passives Opfer. Rituale und Regeln helfen ihnen dabei, sich über die Situation zu erheben: »Ich bin stärker als das, was im Moment mit mir geschieht.«
Dabei spielt es keine Rolle, dass manche Rituale oder Reglementierungen unter normalen Umständen als negativ empfunden werden würden. Als die chilenischen Kumpel noch keinen Kontakt zur Außenwelt hergestellt hatten und von ihren begrenzten Essensvorräten leben mussten, gab es für jeden alle 48 Stunden zu einer bestimmten Zeit einen Löffel Konservenfisch, einen halben Keks und eine halbe Tasse Milch. Quälend wenig, aber niemand begehrte dagegen auf. Instinktiv haben die Kumpel damit nicht nur einem drohenden Kampf um die Vorräte und Chaos vorgebeugt. Auch für die Psyche jedes Einzelnen war die klare Ordnung hilfreich. Sie gab Orientierung und schützte auf diese Weise vor einem Zusammenbruch.
Unzählige Menschen in Kriegsgefangenschaft, Konzentrationslagern oder Geiselhaft wahrten durch das Einhalten solcher Rituale ihre Menschenwürde und sicherten ihr Überleben. In ihnen entstand das Gefühl, »mehr zu sein« als nur der unter vielfältigen Entbehrungen leidende Körper – nämlich ein Geist, der stark ist und selbst durch widrigste Umstände nicht zerstört werden kann. Sie alle haben ihre geistigen Kräfte mobilisiert, um zu überleben. Die Rituale waren das Werkzeug, um diese Kräfte überhaupt erst wecken zu können. Denn viele Menschen, die in scheinbar aussichtslosen und lange andauernden Entbehrungssituationen ausharren mussten, verbanden gewisse Rituale mit positiven Selbstinstruktionen. Sie forderten sich direkt auf zu bestehen, nicht aufzugeben. Solche Appelle können zum Beispiel lauten: »Ich schaffe das! Ich stehe da drüber! Ich komme klar damit! Ich bleibe ich!« Solche positiven Selbstinstruktionen werden in der Psychotherapie übrigens häufig herangezogen, um dem Patienten ein Umpolen von Scheitern auf Erfolg (Überleben) zu ermöglichen.
Bei der späteren Bewältigung traumatischer Erlebnisse spielen Rituale ebenfalls eine sehr wichtige Rolle. Schüler des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt, die den Amoklauf an ihrer Schule erleben mussten, hatten ein großes Bedürfnis, in den Klassenräumen, in denen ihre Lehrer und Mitschüler starben, bestimmte Lieder zu singen, Blumen niederzulegen und innezuhalten. Auch hier besteht die heilsame Wirkung in der Tatsache, aktiv etwas zu tun und damit einen Gegenpol zur empfundenen totalen Macht- und Hilflosigkeit zu setzen.
Immer wenn Unglücke geschehen, die uns emotional betroffen machen – etwa die Massenpanik bei der Love-Parade 2010, bei der es 21 Todesopfer und 541 Verletzte gab –, kommen viele Menschen spontan zur Unglücksstelle, um ihre Anteilnahme und Trauer auszudrücken. Ihre Rituale bestehen darin, Kerzen und Blumen niederzulegen und an der Unglücksstelle zu verweilen oder zu beten. Kinder legen häufig Kuscheltiere oder eine eigene Zeichnung an der Stelle ab, an der ein anderes Kind zu Tode gekommen ist.
In einer Grundschulklasse, die ich einmal nach dem Unfalltod eines Mitschülers betreut habe, war es für die Kinder für die Verarbeitung dieses Schocks sehr wichtig, sich über eine längere Zeit immer wieder Rituale zu überlegen, wie sie den Verstorbenen in den Schulalltag miteinbeziehen konnten. Sie stellten eine Kerze auf seinen ehemaligen Platz, malten Bilder, sangen ein Lied für ihn oder schickten Luftballons mit Grußbotschaften an ihren Freund in den Himmel. Auf diese Weise verharrten sie nicht in sprachloser Trauer, sondern tauschten sich, angeleitet von ihrer Lehrerin, immer wieder über ihre Ideen und Aktionen aus. Das half ihnen dabei, den Verlust zu begreifen, ihre Gefühle miteinander zu teilen und zu akzeptieren, dass es so schlimme Dinge wie den Unfalltod eines Mitschülers gibt. Gerade Kinder laufen große Gefahr, ein solches Ereignis falsch zu verarbeiten, wenn sie mit ihren Gedanken und Gefühlen alleingelassen werden. Daraus können sich langfristig Angst- oder Zwangsstörungen entwickeln, die zu vielfältigen Problemen im Leben der Kinder führen. Durch die gemeinsam geplanten und ausgeführten Rituale und die dadurch entstehende Kommunikation untereinander und mit ihren erwachsenen Bezugspersonen sind sie weitgehend davor geschützt.
Ein anderes Beispiel, das mich sehr beeindruckt hat, waren die Gedenkrituale nach dem Tsunami in Thailand. Zu Tausenden stiegen Ballons
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