Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
aus dünnem Seidenpapier, an denen sich ein mit Paraffin getränkter Ring befand, den man wie eine Fackel entzünden konnte, in den nächtlichen Himmel. Es ist ein sehr emotionaler Moment, wenn so viele Menschen gemeinsam an ihre Verstorbenen denken. Während diese »Himmelslaternen« langsam über das Meer nach oben schwebten, konnten die Angehörigen ihre Toten im wahrsten Sinne des Wortes loslassen. Alle verfolgten vom Strand aus die immer kleiner werdenden Lichter in der tröstlichen Gewissheit, nicht allein zu sein. Ein Ritual mit hoher symbolischer Bedeutung, das für alle etwas Friedliches und Heilsames hatte.
Gegenseitige Hilfe
Der bereits erwähnte österreichische Neurologe und Psychiater Viktor Frankl wurde 1942 von den Nationalsozialisten zusammen mit seiner Frau und seinen Eltern zunächst in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Sein Vater starb dort ein Jahr später, seine Mutter wurde in Auschwitz vergast, seine Frau in Bergen-Belsen. Er selbst überlebte diverse Verlegungen und wurde 1945 in einem Außenlager des KZ Dachau von der US -Armee befreit. Seine furchtbaren Erlebnisse und schweren Verluste verarbeitete er in dem beeindruckenden Buch: »…trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager.«
In seinen Schilderungen des alltäglichen Leids und Elends in den verschiedenen Lagern erwähnt er immer wieder sein starkes inneres Bedürfnis, sich um seine Mitgefangenen zu kümmern, vor allem, wenn es diesen noch schlechter ging als ihm selbst. Diese Fähigkeit, sich auf andere leidende Menschen einzulassen, ihnen zu helfen, Mut zuzusprechen, eine bessere Zukunft vor Augen zu halten, war für ihn ein entscheidender Faktor dafür, dass er das Konzentrationslager nicht nur erlitt und er lebte, sondern dass er über lebte.
Menschen, die anderen in derselben Leidenssituation helfen können, obwohl sie selbst mittendrin stecken, stabilisieren dadurch die eigene Psyche. Sie merken, dass sie im Gegensatz zu der täglich erlittenen Unmenschlichkeit und der erlebten Hilflosigkeit etwas bewirken können, und gewinnen daraus Stärke.
Dieses Phänomen erlebte ich auch bei der Familie von Daniel, jenes 13-jährigen Jungen, der an seiner Krebserkrankung gestorben war. Jahre später traf ich die Mutter wieder, die mir sofort erzählte, wie unendlich schwer der Verlust ihres Kindes für sie gewesen war und manchmal immer noch sei. Nach einiger Zeit aber habe sie für sich einen Sinn in diesem so sinnlosen Tod ihres Kindes gefunden. Sie engagiere sich inzwischen in einer Gruppe für Eltern krebskranker Kinder, in der sie den Betroffenen praktische Hilfestellung geben könne. Als ihre besondere Aufgabe und Herzensangelegenheit bezeichnete sie es, Eltern und Kinder zu ermutigen, miteinander über den Tod zu reden, wenn es keine Hoffnung auf Heilung mehr gibt. Sie selbst habe damals erlebt, wie wichtig das sei.
Dieses Beispiel zeigt, dass die Möglichkeit, anderen zu helfen, sowohl eine Stabilisierungs- als auch eine Bewältigungschance für die Betroffenen sein kann. Auch wenn diese »Hilfestellung« wie bei Daniels Mutter zeitversetzt stattfindet, ist sie eine große Stütze. Und manchmal kann es schon ein hilfreicher Gedanke sein, sich in der Situation der Krise, in der man nur Hoffnungslosigkeit und Dunkelheit um sich herum wahrnimmt, vorzustellen, dass uns der Sinn des Ganzen jetzt noch verschlossen ist, wir ihn aber eines Tages erkennen werden.
Kampf ist nicht gleichbedeutend mit Sieg
Durch unzählige Filme und Bücher wie auch durch Geschichten von Siegertypen im Sport ist in uns das Bild entstanden, dass man schwere Herausforderungen des Lebens nur mit einem konsequenten und gnadenlosen Kampf meistern kann. Wir bewundern die Helden, die am Schluss der Geschichte zwar vollkommen erschöpft, aber glücklich über ihren Sieg sind, ähnlich wie die Ruderer des berühmten Deutschland-Achters, die gegen jeden brennenden Muskel ihrer Körper ankämpfen und gegen ihre inneren Stimmen, die ihnen zuschreien: »Hör auf, es ist zu viel, ich kann nicht mehr!« Hinterher, mit der olympischen Goldmedaille in der Hand, hört man die Sportler dann sagen: »Du musst zur Kopfsau werden, wenn du so ein Rennen gewinnen willst.«
Der Kampf, so man ihn nur konsequent und bis zum Äußersten führt, mündet also in einen Sieg, sagen uns solche Erfolgsgeschichten. Doch nicht jeder Kampf ist es wert, ausgefochten zu werden. Manchmal macht es Sinn, seine Kräfte für etwas anderes zu bündeln. Etwa wenn
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