Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
man mit einer schweren Krankheit konfrontiert ist. Für viele Menschen, bei denen eine vielleicht sogar tödlich verlaufende Krankheit diagnostiziert wurde, beginnt nach den Phasen der Ablehnung und Verzweiflung der Kampf ihres Lebens in der Hoffnung, die Krankheit zu besiegen. Doch man liest nicht selten in Todesannoncen den bitteren Satz: »Unermüdlich gekämpft, gehofft und doch verloren …«
Über einen vollkommen andersgearteten Umgang mit einer tödlichen Erkrankung möchte ich Ihnen im Folgenden berichten. Ich war durch den Oberarzt einer onkologischen Klinik, in der ich als Psychologe Patienten betreute, auf eine junge Frau aufmerksam geworden. Der Oberarzt hatte mir erzählt, wie erstaunlich es sei, dass die sonst üblichen negativen Nebenwirkungen der aggressiven Chemotherapie wie Schmerzen und permanente Übelkeit bei seiner jungen Patientin kaum zu beobachten seien. Als dann auch noch eine Krankenschwester beiläufig anmerkte, sie gehe nach einem anstrengenden Tag im Dienst immer zu jener Patientin, um »aufzutanken«, wurde ich neugierig. Ich ließ anfragen, ob die junge Frau mit einem Besuch meinerseits einverstanden sei, weil ich mich für ihren Umgang mit der Krankheit interessiere.
Schon vom ersten Augenblick unserer Begegnung an spürte ich, dass hier etwas vollkommen anderes ablief als normalerweise bei Menschen in ihrem Kampf gegen die Krankheit. Die Patientin lachte viel, wirkte fröhlich, dabei aber in keiner Weise so, als sei sie sich des Ernstes ihrer Situation nicht bewusst. Sie war 28 Jahre alt und hatte mit ihrer Diagnose »Hodgkin-Krebs«, verbunden mit einigen zusätzlichen ungünstigen Faktoren, ein Risiko von 30 Prozent, die Krankheit nicht zu überleben. Ihr war klar, dass jede dritte bis vierte Frau mit dieser Diagnose statistisch gesehen innerhalb von fünf Jahren stirbt. Sie hatte sich genauestens über den Verlauf dieser Krankheit erkundigt, kannte alle Risiken der Chemotherapie, hatte selbst neueste Studien gelesen. Natürlich sei sie schockiert gewesen über die Diagnose, sie habe verzweifelte Stunden und Tage erlebt und sich die Frage gestellt, warum es gerade sie getroffen habe. Wo sie doch ihr Leben so sehr liebe und mit ihrem Partner gerade eine Familie gründen wollte. Aber sie habe sich vorgenommen, die Krankheit anzunehmen, nicht dagegen anzukämpfen. Besorgt fragte ich sie, ob sie sich schon aufgegeben habe. »Nein, keineswegs«, antwortete sie. »Aber der Krebs ist es einfach nicht wert, dass ich ihm so viel Energie gebe!« Sie sagte, sie wolle keine unnötige Kraft verschwenden in einem erbitterten Kampf gegen den Krebs, sondern ihre Kraft stattdessen für die Entwicklung positiver Energien einsetzen.
Während der Behandlung entwickelte sie eigene innere Bilder, die ihr dabei halfen. So malte sie sich aus, wie die Chemotherapie, die ja nicht nur die Krebszellen zerstört, sondern auch viele gesunde Zellen angreift, die kranken Zellen zwar aus ihrem Körper herausspült, die gesunden Zellen sich dagegen aber zur Wehr setzen würden. Sie sah sie vor sich als kleine Stehaufmännchen, die sich Schutzkleidung übergezogen und fest untergehakt Arm im Arm eine Kette gebildet hatten, um gemeinsam zu bestehen. Die Schutzkleidung dieser Männchen war knallbunt, sie trugen rote Regenmäntel, gelbe Gummistiefel, grüne Kappen, ein jeder in einer anderen Farbkombination. Sie schützten sich mit dieser fröhlichen Bekleidung und halfen sich gegenseitig, um nicht von den aggressiven Medikamenten weggespült zu werden, die durch die Blutbahnen der Patientin strömten. Die Stellen in ihrem Körper, die bisher von Krebszellen besetzt gewesen waren, füllte die junge Frau in ihrer Phantasie sofort mit hellen Farben. In den Phasen ohne Chemotherapie imaginierte sie, wie ihre innere Helfertruppe ihre Schutzkleidung, die mit dem Zellgift in Berührung gekommen war, reparierte oder gegen neue bunte Mäntelchen austauschte. So entstand ein sehr starkes und lebensfrohes inneres Bild.
Diese gedanklichen Übungen wiederholte sie wieder und wieder, so dass sich in ihr das Gefühl festigte, dadurch auch ihre gesunden Zellen und ihre positiven Kräfte immer weiter zu fördern.
Zwei Jahre später traf ich die Frau wieder. Sie hatte an die achtmonatige Behandlung im Krankenhaus noch eine Reha angeschlossen, und bis dato waren alle Nachuntersuchungen positiv verlaufen. Sie berichtete mir, dass sie wegen ihrer Einstellung, nicht zu kämpfen, bei vielen Mitpatienten auf Unverständnis gestoßen
Weitere Kostenlose Bücher