Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Spiritualität im Allgemeinen – kann etwas Einigendes haben, Menschen ein Gefühl geben, von Gott/einer höheren Macht oder schlicht einer ähnlich empfindenden Gemeinschaft aufgefangen zu werden. Das wurde auch in Borken kurz nach dem Grubenunglück deutlich. In einer Situation tiefster Verzweiflung, als den Angehörigen klar wurde, dass es kaum mehr Hoffnung auf ein Überleben der Bergleute gab, Sprachlosigkeit und Entsetzen herrschte, trat ein Pfarrer vor die Menge und verlas Psalm 23: »Der Herr ist mein Hirte«. Mit diesem Psalm fand der Pfarrer Worte, die Entsetzen und Angst ausdrückten, zugleich aber ein Gefühl der Zuversicht vermittelten, dass dieses schwere Schicksal gemeinsam bewältigt werden kann und eine höhere Macht dabei Orientierung und Hilfestellung gibt. Seine Worte brachten sehr unterschiedliche Menschen einander näher und einte sie in dem Vertrauen darauf, dass man sich auf positive Kräfte verlassen kann, die ein Weiterleben ermöglichen werden.
Von einer ähnlichen Erfahrung berichtete mir einmal ein Patient, der durch ein Martyrium gegangen war, an dem viele andere Menschen zerbrochen wären. Er war über Monate hinweg gefoltert worden und hatte schlimmste, durch Elektroschocks verursachte Schmerzen ertragen müssen, die ihn eigentlich an den Rand des Wahnsinns hätten bringen müssen. Da sich seine Seele aber »immer in Gottes Hand« befunden habe, sei er in der Lage gewesen, den körperlichen Schmerz abzukoppeln. Er habe das Gefühl gehabt, bei Gott in Sicherheit zu sein, es sei »nur« sein Körper gewesen, der gefoltert wurde, nicht er. Sein Glaube habe ihn davor bewahrt, dass sein Innerstes, seine Seele, sein Ich durch die Folter zerstört wurden. Zwar habe er anfangs gezweifelt, ob Gott ihn nicht doch verlassen habe, sich dann aber an den Satz von Jesus erinnert: »Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig« (2 Kor 12,9). An diesen Worten habe er sich immer wieder aufrichten können, vor allem in den Momenten, in denen sein geschundener und geschwächter Körper ihm signalisierte, dass keine Kraft mehr in ihm war. Ohne den Glauben, davon war der Mann überzeugt, hätte er das Martyrium nicht überlebt.
Aus psychologischer Sicht hat ihm dabei das bereits erwähnte Phänomen der Dissoziation geholfen. Denken und Fühlen wurden für den Moment voneinander abgespalten. Dadurch können Menschen in extremen Schmerz- oder Belastungssituationen davor geschützt werden, von zu starken Gefühlen übermannt zu werden. Wird diese Dissoziation mit den Gedanken an eine schützende, Kraft und Hoffnung gebende Macht verbunden, kann sich der Betroffene so aufgehoben fühlen, dass er aus diesem Halt eine enorme Überlebenskraft entwickelt – sofern er vorher schon auf irgendeine Weise einen Zugang zu Spiritualität hatte. Es muss dabei nicht notwendigerweise der Glaube an den christlichen Gott sein, der Menschen in Extremsituationen aufrecht hält. Für viele ist es der Glaube an eine eher diffuse »höhere Macht«, an »gute Kräfte«, an etwas »Übersinnliches«. Die Gewissheit, von guten Mächten geborgen zu sein, wirkt wie ein Schutzschild vor einer Überspannung der psychischen Abwehrkräfte.
Auch für mich als Psychotherapeut, der mit Menschen arbeitet, die schlimmste Dinge erlebt und häufig keine Hoffnung mehr haben, ist es ein zentraler und tröstlicher Gedanke, dass ich die Herausforderungen und Belastungen meiner Arbeit nicht allein mit meinen fachlichen und menschlichen Fähigkeiten bewältigen muss. Ich wäre sehr schnell ausgebrannt und nicht mehr in der Lage, anderen Menschen zu helfen, wenn ich mich allein auf meine persönlichen Kräfte verließe. Ich schöpfe Zuversicht und neue Energie aus der Vorstellung, dass Gutes und Heilsames, von einer »höheren Macht« gestützt, durch mich hindurch wirken.
Durch einen Medizinmann der Teton-Sioux habe ich vor vielen Jahren eine Übung kennengelernt, die mir schon oft geholfen hat, mit den Belastungen, die durch Gespräche mit traumatisierten Menschen auf mich einwirken, gelassener umzugehen. Fools Crow hat in seinem Buch »Das geheime Wissen des Schamanen Fools Crow« eindrücklich beschrieben, dass nicht er es sei, der die Kranken seines Stammes heile, sondern »Wakan-Tanka«, sein Gott und dessen mächtige Helfer. Seine Aufgabe sei es lediglich, sich zum »hohlen Knochen« zu machen und die eigene Eitelkeit abzulegen, damit die göttlichen Kräfte durch ihn hindurchfließen könnten. Nur wenn er sich selbst »leer mache«, sei er in
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