Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
hat zu einem allgemeinen Ausnahmezustand geführt. Die Rückkehr zu der Normalität, wie sie vorher war, wird so schnell nicht möglich sein. Normalität bedeutet dabei nicht, den gleichen Zustand wie früher herzustellen. Die Betroffenheit und Verunsicherung aller muss psychologisch aufgearbeitet werden. Ursachenanalysen müssen die gesamte betroffene Gemeinschaft mit einbeziehen. Alle helfen bei der Aufarbeitung und Bewältigung des Ereignisses mit. Daraus kann man Schlüsse ziehen, wie die neue Normalität zu gestalten ist. Schwer traumatisierte Personen werden zusätzlich individuell behandelt.
Die erste Position ist rein individualpsychologisch und auf die Behandlung der »Kranken« beschränkt, die zweite Position schließt eine soziale und gesellschaftspolitische Aufarbeitung mit ein. Wenn man nur die vermeintlich »Schwächsten« eines Systems behandelt, also diejenigen, die nach dem Amoklauf Traumasymptome entwickelten, verschließt man meines Erachtens die Augen vor all den Fragen, die bei einem solchen Ereignis unbedingt gestellt werden müssten:
Wie kann die Gemeinschaft mit den Folgen des Ereignisses umgehen?
Wie konnte es an dieser Schule zu einem Amoklauf kommen?
Was ist versäumt worden und was können wir in Zukunft anders/besser machen?
Wie gehen wir damit um, dass viele Lehrer und Schüler Ängste entwickelt haben, dass so etwas wieder geschehen könnte?
Wie können diejenigen, die mit dem Ereignis leichter umgehen konnten, denen helfen, die es schwerer hatten?
Was können wir voneinander lernen (Schüler von Lehrern, Lehrer von Schülern)?
Wie können wir uns gegenseitig unterstützen?
Einer meiner Vorschläge zur weiteren Betreuung war damals, ein Unterrichtsfach mit dem Namen »Traumabewältigung« einzuführen; eine Stunde pro Woche sollte Schülern und Lehrern die Möglichkeit gegeben werden, all diese oben genannten Fragen zu besprechen. Der Vorschlag stieß auf erstaunlichen Widerstand. Man solle das nicht alles so hochspielen, die Leute nicht durch »Psychologisieren« verrückt machen und dadurch vom »heilsamen Vergessen« abhalten. Außerdem stünde das Abitur an, die Lehrpläne müssten erfüllt werden und so weiter.
Solchen und ähnlichen Haltungen bin ich nach Katastrophen immer wieder begegnet. Es ist menschlich und verständlich, dass man nach einer Krise so schnell wie möglich zurück zur Normalität will, zurück zum Alltag, am besten zu dem, den man vorher hatte. Damit machen wir uns jedoch etwas vor. Man kann die Erschütterung einer ganzen Schulgemeinschaft nicht mit der Haltung »Augen zu und durch« bewältigen. Es gibt keine Normalität mehr, schon gar nicht die alte. Viele Betroffene haben mir damals erzählt, sie hätten das Gefühl, Schule nur »zu spielen«. Man tat so, als konzentriere man sich auf den Unterricht, war innerlich jedoch damit beschäftigt, Angst- und Paniksymptome zu bekämpfen. Andere quälten sich mit den Gedanken, ob und wie sie die Tat hätten verhindern können, litten unter psychosomatischen Beschwerden und bekamen die Bilder der Opfer nicht aus dem Kopf. Lehrer und Schüler gerieten in eine doppelte Drucksituation: Sie wollten oder mussten den äußeren Anforderungen genügen und funktionieren, fuhren innerlich jedoch auf einer ganz anderen Schiene. Hinter dem »Schule spielen« steckt der Wunsch, das Alte, Bekannte und Bewährte festzuhalten, obwohl man im Grunde längst weiß, dass es unwiederbringlich zerstört ist. Etwas Neues, an dem man sich orientieren könnte, ist noch nicht gefunden, momentan ist das bestimmende Gefühl die Unsicherheit. Und weil diese Unsicherheit so schwer auszuhalten ist, klammert man sich an das Alte.
Je länger man das tut, umso schwieriger wird die Bewältigung, die »Herstellung« einer »neuen Normalität«.
Regelmäßig melden sich Menschen bei mir, die Opfer einer lange zurückliegenden Katastrophe waren, unmittelbar danach aber keine Notwendigkeit gesehen hatten, ein Hilfsangebot anzunehmen. Ein Lehrer berichtete mir zum Beispiel, er sei 13 Jahre, nachdem er die Tötung einer Kollegin indirekt miterlebt hatte, überfallen worden. Ein Jugendlicher habe ihm sein Handy und 20 Euro entwendet, ein Ereignis, das er als sehr ärgerlich aber eigentlich gar nicht so schlimm empfunden habe. Doch danach seien all jene Gefühle wieder hochgekommen, die er nach dem Tod der Kollegin weggedrückt habe. Inzwischen komme er überhaupt nicht mehr mit seinem Leben zurecht, sei depressiv, leide unter Ängsten und könne nicht
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