Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
könnte sich so abspielen: Ein Mitglied des Teams kommt auf Sie zu und spricht Sie an: »Guten Tag, mein Name ist Susanne Meier. Ich bin mit meinen Kollegen hier, um mich um Sie zu kümmern und Ihnen Informationen über den Unfall zu geben. Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Sie nicken, haben aber weder den Namen der Frau behalten, noch können Sie sich vorstellen, was dieses »kümmern« zu bedeuten hat. Die Dame erfragt Ihren Namen, notiert ihn und fragt, ob Sie etwas zu trinken haben wollen. Sie nicken wieder. Der Becher in der Hand ist in all dem Chaos wenigstens etwas zum Festhalten. Ihre Gedanken aber kreisen immer noch um Ihre Kollegin und um die Kinder. Sie sagen ihr, dass Sie ganz verzweifelt seien, weil Sie nicht wissen, ob die Kollegin noch lebt. Außerdem hätten Sie Ihr Handy verloren und könnten weder Ihre Arbeitsstelle noch Ihre Angehörigen verständigen. Ihr Grundgefühl ist absolute Hilf- und Orientierungslosigkeit.
Die Dame vom Betreuungsdienst wird in diesem Moment ganz gezielt Fragen stellen: Wann Sie von wo losgefahren sind, wohin Sie unterwegs waren, wie die Fahrt verlaufen ist und wie Sie den Unfall erlebt haben. Sie merken, wie diese Rekonstruktion des Erlebten Ihnen ein Stück Beruhigung, Klarheit und Orientierung gibt. Parallel dazu reagiert Ihr Körper. Sie haben Schweißausbrüche, müssen zur Toilette, beginnen unkontrolliert zu schluchzen. Sie fragen sich, wie und ob Sie diese Anspannung überhaupt durchstehen können oder ob Sie gleich zusammenbrechen werden. Frau Meier beruhigt sie, das sei eine ganz normale Reaktion in einer unnormalen Situation. Sie reicht Ihnen eine Decke und sagt, Sie sollten darauf vertrauen, dass Ihr Körper sich wieder beruhigen wird. Sie versichert Ihnen mehrfach, dass es zwar ein schlimmer Unfall gewesen sei, jetzt aber alles vorbei und Sie in Sicherheit seien. Sie fragt nach dem Namen Ihrer Kollegin, dann steht sie auf, um sich nach deren Zustand zu erkundigen.
Als sie zurückkommt und Sie zwischen all den fremden Gesichtern ein vertrautes entdecken, werden Sie etwas ruhiger. Frau Meier berichtet Ihnen, dass Ihre Kollegin schwer verletzt auf dem Weg ins Krankenhaus sei, und versichert, dass sie mit Ihnen hofft, dass alles gut geht. Sie fragt, ob Sie jemand informieren solle oder Ihnen ihr Handy leihen solle. Mit der Zeit merken Sie, dass auch die körperlichen Reaktionen nachlassen, Ihre Gedanken nicht mehr so wild durcheinandergehen. Die Betreuerin wird am Ende dafür sorgen, dass Sie nach Hause kommen, und Ihnen erklären, an wen Sie sich wenden können, wenn Sie das Bedürfnis haben, über den Unfall zu reden. Auch wenn Frau Meier an den schrecklichen Tatsachen des Unglücks nichts ändern konnte, haben die Gespräche mit ihr Sie doch ein Stück weit stabilisiert und »über Wasser gehalten«.
Sehen wir uns an, welche einzelnen Elemente bei der Erstbetreuung nach einer solchen außergewöhnlichen Belastung wichtig und hilfreich sind: Abgesehen von der Erfüllung gewisser Grundbedürfnisse (etwas zu essen, zu trinken, eine wärmende Decke und dergleichen) ist es entscheidend, dass der Kontakt zu einer außenstehenden, vom Ereignis nicht direkt betroffenen Person hergestellt wird. Denn diese kann immer wieder darauf hinweisen, dass die unmittelbare Gefahr vorüber und die Verunfallte jetzt in Sicherheit ist. Sie wird versuchen, das wichtigste Anliegen der Betroffenen – Informationen über das Geschehen und den Zustand der verunfallten Person zu bekommen – immer wieder und so gut es geht, zu erfüllen. Außerdem wird sie den Betroffenen erklären, dass ihre Reaktionen nicht unnormal sind, sondern ganz natürlich angesichts einer solchen Situation.
In einem nächsten Schritt wird der Betreuer versuchen, die Betroffenen zu »erden«; denn aufgrund der vielfältigen Reize und der Macht der schrecklichen Bilder und heftigen Emotionen gerät in der Psyche einiges durcheinander. Für diese Erdung müssen die Betroffenen zunächst einmal nachvollziehen können, was eigentlich geschehen ist, und rekapitulieren, wie es dazu gekommen ist, dass sie jetzt hier mit einer Betreuerin sitzen. Der Verwirrung und emotionalen Überflutung wird dadurch entgegengewirkt, dass das Geschehen durch gezielte Sachfragen und die Rekonstruktion des zeitlichen Rahmens nachvollzogen wird. Entscheidend ist dabei, dass die sachliche Ebene konsequent beibehalten wird. Denn ein vertiefender Austausch über die Gefühlslage unmittelbar nach einem solchen Ereignis würde die negativen
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