Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
wollte.
Auf diese Weise engen viele Betroffene ihre Spielräume immer mehr ein, bis sie im Extremfall das Haus gar nicht mehr verlassen können. Für sie ist das der einzige Weg, um den auslösenden Reiz für Gefühle wie Schmerz und Hilflosigkeit zu meiden. Gleichzeitig können sie natürlich auch in den eigenen vier Wänden nicht sicher sein vor plötzlichen Erinnerungen, da es auch »interne Auslösereize« gibt, etwa bestimmte Körperempfindungen oder Gedanken, die das Unwohlsein in Gang setzen. Auf diese Weise kommt es bei traumatisierten Menschen häufig zu bizarren Verhaltensmustern, deren Irrationalität sie manchmal zwar selbst erkennen, diese aber nicht ohne weiteres verändern können. Die Vermeidungshaltung führt zwar kurzfristig zu Gefühlen der Erleichterung (etwa: »Gott sei Dank habe ich es geschafft, der unangenehmen Begegnung mit der Witwe meines Freundes aus dem Weg zu gehen«), langfristig kommt es jedoch zu wesentlich umfangreicheren Problemen. Diese Muster können letztlich dazu führen, dass ein Lebensentwurf komplett scheitert – wie in folgendem Beispiel.
Das Geiseldrama von Gladbeck hielt 1988 die ganze Republik in Atem. Zwei brutale Gangster hatten eine Bank überfallen, mehrere Geiseln genommen, einen 15-Jährigen erschossen, Lösegeld und freies Geleit erpresst. In ihrem späteren Fluchtfahrzeug hielten sie zwei junge Frauen fest. Die Bilder der Gangster, die ihren verzweifelten Opfern die geladenen Pistolen an den Hals hielten, während sie von Medienvertretern interviewt wurden, gingen um die Welt. Millionen Zuschauer waren live dabei, als die Geiselnehmer drohten, die beiden Frauen zu erschießen – ein äußerst zweifelhaftes Medienspektakel. Schließlich wurde das Fluchtauto auf der Autobahn von einem Sondereinsatzkommando gerammt, es gab einen Schusswechsel, bei dem eine der Geiseln erschossen wurde, die Täter wurden gefasst.
Einige Monate nach dem Ereignis traf ich die überlebende Geisel im Rahmen einer Fernsehsendung, in der ich über die Notwendigkeit sprach, gravierende traumatische Erlebnisse psychologisch aufzuarbeiten, damit man sich nicht im Vermeidungsverhalten festfährt. Die sehr nette junge Frau vertrat jedoch die Meinung, sie habe das nicht nötig, sie habe ihre Familie, und die werde ihr helfen, das Erlebte zu vergessen. Selbstverständlich ist die Familie ein ganz wichtiger Faktor bei der Bewältigung traumatischer Ereignisse und nicht jede(r) Betroffene braucht die Unterstützung eines Fachmanns. Aber sie erwartete sich offensichtlich eine Hilfe ihrer Familie beim Vergessen des Grauens – und dieser Versuch ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Eine traumatische Erfahrung, wie diese junge Frau sie machen musste, ist so gravierend, dass man sie letztlich niemals vergessen kann. Die einzige Chance besteht darin, sie als Bestandteil des eigenen Lebens zu akzeptieren. Und das geht in der Regel nur, wenn man einen Modus findet, sich dem Erlebten zu stellen.
Einige Jahre später sah ich die ehemals attraktive junge Frau als sehr übergewichtige Person in einer Talkshow wieder; sie klagte darüber, dass ihr Leben nach der Geiselnahme körperlich und psychisch vollkommen aus den Fugen geraten sei. Sie litt unter Ängsten und Panik, hatte ihre Arbeit verloren, die Partnerschaft war zerbrochen, und sie hatte keine Perspektive, wie ihr Leben weitergehen könnte. Sie hatte es offenbar nicht geschafft, die schwere Erfahrung der erlebten Todesangst und den Verlust ihrer Freundin zu verarbeiten und in ihr Leben zu integrieren. Sie hatte innerlich stagniert und die Fähigkeit zu aktivem Handeln verloren. Durch ihre Vermeidungshaltung war sie in eine Sackgasse geraten, die zum Gefängnis wurde, aus dem sie sich nicht mehr befreien konnte.
Ein noch genaueres Bild davon, wie sich Vermeidungsmuster entwickeln können, die einen traumatisierten Menschen daran hindern, Anschluss an sein normales Leben zu behalten, ergibt sich durch die Betrachtung der Reaktionen eines Schülers in Erfurt, der den Amoklauf an seiner Schule hautnah miterlebte. Für jenen Schüler, nennen wir ihn Frank, hatte es dabei folgende Erlebnis-Variablen gegeben: Es geschah an einem Dienstag, der Amokläufer trug schwarze Kleidung. Frank saß in der dritten Reihe, hatte einen roten Pullover an, neben ihm saß Birthe, sie hatten gerade Englisch-Unterricht, draußen war ein bewölkter Tag, er war mit dem Gedanken beschäftigt, dass er heute noch Geigenunterricht haben würde, und hatte unmittelbar vor
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