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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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konnten? Oder ist es nicht vielmehr so, dass sie schlicht aufgrund der gesellschaftlichen Situation keine Möglichkeit hatten, über ihre psychischen Probleme zu reden? Alle hatten Schreckliches erlebt, kaum jemand wollte daran erinnert werden. Die Diagnose PTBS kam erst in den 1980er-Jahren auf. Von daher »versteckten« sich viele Kriegstraumatisierungen hinter anderen Diagnosen wie zum Beispiel Depressionen, Alkoholabhängigkeit oder Herz-Kreislauferkrankungen. Erst vierzig, fünfzig Jahre nach dem Krieg wurde das Schweigen langsam gebrochen. Viele Frauen berichteten, dass sie das Trauma ihrer Vergewaltigung jahrzehntelang mit sich herum getragen hätten, die Erinnerung daran sie immer wieder gequält habe. Je älter die Augenzeugen von damals werden, umso stärker ist ihr Drang, über ihre Kriegserlebnisse zu sprechen. In Altenheimen ist häufig zu beobachten, dass Demenzkranke Bedrohungs- und Angstsituationen halluzinieren, die über siebzig Jahre zurückliegen. Alte Bilder, Gefühle, Gerüche, Ängste und psychischer Schmerz drängen mit aller Macht nach außen und lassen sich nicht länger im Zaum halten. Der Körper vergisst ein Trauma nicht!
    Ein eindrückliches Beispiel dafür erlebte ich in meiner Praxis: Eine Frau Anfang sechzig, die aufgrund der Folgewirkungen nach einem Autounfall eine Reihe von sehr belastenden Operationen und weiteren medizinischen Behandlungen über sich hatte ergehen lassen müssen, bat mich telefonisch um einen Termin. Sie habe während der Behandlungen unsagbare Qualen erlebt und sei vor Angst fast verrückt geworden. Die Ärzte hätten sie regelrecht gefoltert. Nun stünde die nächste Behandlungsreihe an, und sie wisse nicht, wie sie das durchstehen solle. Der Ausdruck, die Ärzte hätten sie »gefoltert«, machte mich hellhörig. In der Anamnese schilderte die Frau, dass die schlimmsten Ängste in dem Moment in ihr hochgekommen seien, als die Ärzte sie bei einem Eingriff aus medizinischer Notwendigkeit fixieren mussten. Meine Frage nach früheren schweren Lebensbelastungen verneinte sie.
    Während der Behandlung mit einer speziellen Therapiemethode (siehe Kapitel 13) erinnerte sie sich plötzlich an eine Vergewaltigung durch einen Bekannten der Familie; damals war sie 13 Jahre alt gewesen. Der Täter hatte sie in eine Position gezwungen ähnlich der Körperhaltung, die sie während der aktuellen medizinischen Behandlung einnehmen musste. Sie hatte nie über den Vorfall gesprochen. Ein zaghafter Versuch, damals mit der Mutter darüber zu reden, war daran gescheitert, dass diese den Andeutungen der Tochter keinen Glauben schenkte. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte gelang es ihr, die traumatische Erinnerung Stück für Stück verblassen zu lassen, bis sie »gar nichts mehr davon wusste«. Nur ihr Körper hatte das Trauma nicht vergessen. Die medizinische Behandlung war der Auslöser dafür, dass der unbearbeitete Schmerz die Frau regelrecht überflutete, so dass sie ihn nicht länger ignorieren konnte.
    Auch wenn die Auswirkungen schwerer Traumatisierungen eine Zeit lang in Schach gehalten werden können, manchmal sogar über Jahrzehnte – vergessen sind sie nicht. Im Nachhinein erinnern sich Patienten dann häufig, dass sie »immer mal wieder gespürt haben, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist«. Es ist der Körper, der oft Signale sendet: Die Betroffenen fühlen sich in bestimmten Situationen »unwohl«, sie halten es zum Beispiel nicht aus, wenn ihnen Fremde zu nahe kommen, sie können nicht in ein Flugzeug steigen, nicht in einem abgedunkelten Raum schlafen, leiden unter Angstträumen oder körperlichen Beschwerden, für die sich keine somatischen Ursachen finden lassen. Verantwortlich dafür ist in vielen Fällen eine nicht aufgearbeitete Traumatisierung.
    Suchen diese Menschen ärztliche Hilfe, werden häufig nur die Symptome behandelt und nicht deren Ursachen. Hausärzte verschreiben Schlaftabletten, Beruhigungsmittel, Angstblocker und Antidepressiva. Untersuchungen der Psychotherapieforschung haben ergeben, dass viele dieser Patienten eine bis zu sieben Jahre andauernde Odyssee durch verschiedenste Arztpraxen hinter sich haben, bis sie in effektive psychotherapeutische Behandlung gelangen.
    Aus meiner langjährigen Erfahrung weiß ich, dass auch Menschen, die eine weit zurückliegende Traumatisierung erlitten haben, erfolgreich therapiert werden können. Schwere Traumatisierungen müssen aufgearbeitet werden, früher oder später. Welcher Weg dabei für den Betroffenen

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