Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Sie hörte seine Worte: »Dann nehme ich dich mit!« Sofort empfand sie Todesangst wie in der realen Situation. Für die Frau war das Ereignis nicht abgeschlossen, die Bedrohung allgegenwärtig. Wenn sie in den Keller ihres Hauses ging, glaubte sie, ihn hinter sich zu spüren, und rannte panisch nach oben in ihre Wohnung. Sie fühlte sich permanent angespannt, konnte nachts kaum schlafen, und wenn sie schlief, hatte sie schreckliche Albträume. Das Leben mit ihrem Partner wurde zu einer besonderen Belastungsprobe, da sie keinerlei Körperkontakt zulassen konnte. Gegenüber Kollegen, die sich nach ihrem Zustand erkundigten, wiegelte sie ab. Sie ging allem aus dem Weg, was sie nur im Entferntesten an die traumatische Situation hätte erinnern können. Sie sprach mit niemandem über das Ereignis, isolierte sich vollständig und stand vor den Trümmern ihres Lebens. Auch die Perspektive eines sicheren Jobs war dahin, was sie zusätzlich in Verzweiflung stürzte und depressiv machte.
Erklärung der Mechanismen
Das Bild, in einer Sackgasse zu stecken, entsprach dem Gefühl, das sich seit Wochen in ihr verfestigt hatte. Dabei hatte sie aus ihrer Perspektive alles unternommen, um eine Besserung ihres Zustands zu erlangen: Sie hat versucht, nicht mehr an das Ereignis zu denken. Sie hat sich von ihren Arbeitskollegen distanziert, ihre Gesprächsangebote ausgeschlagen. Sie hat sich krankschreiben lassen, geht nicht zur Arbeit und hat somit keinen Kontakt zu Patienten, die ihr Gleiches antun könnten. Und sie hat versucht, sich abzulenken – durch Lesen, Spazierengehen, Fernsehen. All das hat nichts geholfen, die Gedanken an das erlittene Trauma wurden zu ihren ständigen Begleitern, hätten »alles infiziert«, wie sie später sagte.
Im Laufe unserer späteren Sitzungen haben wir die Symptome notiert. Wichtig ist dabei, dass die Patientin ihr Vermeidungsverhalten erkennt und beschreibt. In ihrem Fall sah das so aus: »Ich kann meine Arbeit nicht mehr ausführen. Ich bin schreckhaft, leide unter ständiger Angst. Ich schlafe schlecht, habe Albträume. Ich vermeide es, darüber zu reden, und gehe Kollegen aus dem Weg. Ich grüble stundenlang, ob und wie ich es hätte verhindern können. Ich kann Sexualität nicht mehr zulassen, bin stark angespannt. Ich habe Flashbacks«, bin depressiv und habe keine Lebensperspektive mehr.«
Funktionslevel vor und nach dem Trauma
Vor diesem Ereignis hatte ihr Leben einwandfrei funktioniert: Die Frau konnte ihre Arbeit ohne Probleme ausführen, hatte einen inneren Plan, wie ihr Leben weitergehen werde, lebte in einer erfüllten Partnerschaft, hatte gute Sozialkontakte zu Kollegen, Nachbarn und Freunden. Sie litt unter keinem der sie inzwischen beherrschenden Symptome.
Meine entscheidende Frage als Therapeut war nun: »Was müssen Sie tun, um wieder zu diesem Zustand zurückzukommen?«
Ohne zu zögern antwortet sie: »Ich muss durch das Trauma!«
Ich versicherte ihr, dass ich sie auf dieser Wegstrecke nicht alleine lassen würde, sagte ihr aber auch, dass der Weg durch das Trauma kein Spaziergang werden würde, sondern ein schmerzhafter Prozess. Gleichzeitig aber sei dieser Weg der einzige, der ihr ein Leben im Guten danach ermöglichen könne. Das absolute Vergessen gibt es nicht – dazu war das Ereignis zu existentiell und einschneidend. Es bleibt nur die Chance, diese Erfahrung in sein Lebensbild zu integrieren und mit ihr weiterzuleben. In der Regel anders als vorher, aber nicht notwendigerweise schlechter. Denn nur durch eine Konfrontation mit dem Geschehenen werden wir wieder in die Lage versetzt, wirklich freie Entscheidungen für unseren weiteren Lebensweg zu treffen.
Auf unser Beispiel übertragen heißt das: Während sich die Betroffene in der Sackgasse befindet, sagt sie, sie wolle nie wieder im Vollzugskrankenhaus arbeiten und vor allem nie wieder Kontakt zu Gefangenen haben. Diese »Entscheidung« ist jedoch keine frei getroffene, sondern geprägt von Vermeidungsverhalten, von der Angst, erinnert zu werden, und der Befürchtung, das nicht aushalten zu können. Erst wenn die Betroffene »durch das Trauma durch« ist und ihre Erinnerungen daran nicht mehr durch Vermeidung zügeln muss, kann sie sich wirklich frei entscheiden, ob sie tatsächlich nie wieder auf der Krankenstation arbeiten möchte. Oder ob sie doch noch einen Weg finden kann, ihre Arbeit – vielleicht unter veränderten Rahmenbedingungen (zum Beispiel dass sie nie mit einem Patienten allein in einem Raum sein
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