Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Trauma durch diese Strategie nicht ausschalten können. Ein Kennzeichen der posttraumatischen Belastungsstörung ist wie gesagt das unwillkürliche Auftauchen von Erinnerungen, die bereits genannten Flashbacks. Sie können durch Gerüche, Geräusche, Bilder, irgendwelche Kleinigkeiten ausgelöst werden und die Betroffenen tagsüber und in ihren Träumen heimsuchen. Sie erleben dabei nicht nur jene Angst, jenen Schrecken und jenes Gefühl der Hilflosigkeit wie während der traumatischen Ausgangssituation. Ihre Gefühle werden letztlich dadurch potenziert, dass sie diese Flashbacks nicht steuern können. Sie erinnern sich an die traumatische Erfahrung nicht wie wir, wenn wir zum Beispiel ungewollt an eine unangenehme Szene aus einem Horrorfilm denken und uns dann sagen: »Schluss damit, das war doch nur ein Film, jetzt will ich mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren!« Diese unwillkürlich auftauchenden Flashbacks lassen sich nicht einfach stoppen und das besonders Unangenehme an ihnen ist, dass sie in der Regel in Situationen auftauchen, in denen die Betroffenen dies überhaupt nicht brauchen können: wenn sie sich konzentrieren müssen, entspannen wollen, sich mitten in einem Gespräch mit dem Chef befinden oder beim Austausch von Zärtlichkeiten mit dem Partner.
Haben die Betroffenen einmal diese quälende Erfahrung gemacht, steigert sich die Furcht davor – und führt zu einer noch konsequenteren Vermeidungshaltung. Der Traumatisierte ist überzeugt davon, dass offenbar schon die kleinste Erinnerung an das Trauma (wie im beschriebenen Fall der Anblick von Klebeband) ein starkes Unwohlsein auslöst, das sich schnell zu einem Panikgefühl steigern kann. Die fatale Schlussfolgerung lautet für viele: Ich muss versuchen, alles zu vermeiden, was mich an das Schreckliche erinnert, nur dann kann ich es überleben.
Im Fall der Krankenschwester könnte dieses Szenario so aussehen: Sieht sie eine Szene in einem Fernsehkrimi, in der eine Frau als Geisel genommen wird, schaltet sie sofort auf einen anderen Kanal um. Der auslösende Reiz wird durch die Sendung geliefert, er erinnert an die eigene Situation, führt zu körperlichem und psychischem Unwohlsein und zu einem Programmwechsel. Vieles dabei geschieht unbewusst; der Zusammenhang zwischen der Szene im Fernsehen und dem eigenen Trauma ist der Frau nicht bewusst. Das sind Automatismen unserer Psyche, nicht die rational gesteuerte Erinnerung, die sie zu dem erlebten Trauma herstellen würde, wenn sie es emotional verarbeitet hätte.
Das Problematische an diesen »Lösungsansätzen« – in der Psychologie sprechen wir von dysfunktionalen Lösungen – besteht darin, dass die Betroffenen lernen, dass man durch dieses Verhalten kurzfristig Erleichterung verspüren kann. Die bedrohliche Situation gehört zum »Tatort« im Ersten, jetzt sehe ich im Zweiten einen Tierfilm, die Angst hatte nichts mit mir zu tun, nur mit einem Film. Das ist eine Form der Abspaltung, die nicht dazu führen kann, dauerhaft die Ängste jener Frau zu beseitigen. Eine Scheinbewältigung, die langfristig gesehen zu einer ständig wachsenden Verunsicherung führt, was die eigenen Bewältigungsfähigkeiten betrifft. Denn letztlich müssen die Betroffenen immer ausgefeiltere Vermeidungsstrategien einsetzen, um nicht mit den gefürchteten, stressauslösenden Situationen konfrontiert zu werden: Der nächste Schritt der Krankenschwester könnte zum Beispiel darin bestehen, den Fernseher erst gar nicht mehr einzuschalten oder trickreich dafür zu sorgen, dass die Familie von einem gemeinsamen Ausflug so spät nach Hause kommt, dass der »Tatort« – und damit die mögliche Konfrontation mit Details, die an das Trauma erinnern – verpasst wird.
Im Zusammenhang mit dem Grubenunglück von Borken erlebte ich, dass ein überlebender Kumpel jedes Mal die Straßenseite wechselte, wenn er der Witwe eines befreundeten Bergmannes begegnete. Er konnte nicht damit umgehen, dass er überlebt hatte, während sein Kumpel umgekommen war. Durch den Anblick der schwarz gekleideten Frau wurden Flashbacks in ihm ausgelöst, die er nicht ertragen konnte. Im Gesichtsausdruck der Witwe meinte er, einen stummen Vorwurf zu erkennen: »Warum bist du hier, während mein Mann da unten jämmerlich gestorben ist?« Nach einigen weiteren derartigen Erfahrungen bestand der nächste Schritt seiner Vermeidungsstrategie darin, mit der Zeit gar nicht mehr in die Stadt zu fahren, weil er solche Konfrontationen in jedem Fall umgehen
Weitere Kostenlose Bücher