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Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)

Titel: Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Pieper
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dem Amoklauf heimlich in sein Schinkenbrötchen gebissen.
    Diese Variablen führten zu folgenden Reaktionen: Immer wenn er in der Stadt einem schwarz gekleideten Jugendlichen begegnete, fühlte er Angst und Panik, bekam Schweißausbrüche und zitterte. Jeder Dienstag war ein »schwarzer Tag«, ein Tag, an dem er morgens nicht mehr aufstehen wollte. In seinem roten Pullover fühlte er sich extrem unwohl. Jede Begegnung mit Birthe war irgendwie unangenehm. Im Englisch-Unterricht konnte er sich kaum noch konzentrieren und war hoch angespannt. Bei einem bewölkten Tag fühlte er sich depressiver als an einem sonnigen. Seine ohnehin länger schon bestehende Unlust am Geigenunterricht wurde verstärkt. Ihm schmeckte kein Schinkenbrötchen mehr.
    Einige Wochen später wurde Franks Tagesablauf vollkommen von Vermeidungsstrategien bestimmt: In der Stadt wechselte er immer die Straßenseite, wenn er einem schwarz gekleideten Jugendlichen begegnete. Später vermied er es immer häufiger, überhaupt in die Stadt zu gehen. Dienstags fühlte er sich meistens krank und ging nicht in die Schule. Als Grund gab er an, sich elend zu fühlen, da er unter starken Schlafstörungen aufgrund schrecklicher Albträume leide. Seinen roten Pullover zog er nicht mehr an. Mit Birthe redete er nur noch das Nötigste, auch von anderen Freunden zog er sich mehr und mehr zurück. Seine Englisch-Leistungen ließen stark nach, am Ende des Schuljahrs war er von ehemals 10 auf 4 Punkte abgefallen. Depressive Gedanken und Gefühle wurden immer massiver, eine behandlungsbedürftige Depression wurde diagnostiziert. Den Geigenunterricht kündigte er, und er aß übermäßig viel Süßes.
    Das Vermeidungsverhalten dieses Jugendlichen war so ausgeprägt und erfasste so viele Bereiche, dass er kaum noch angenehme Erlebnisse hatte. Er bekam Probleme in der Schule und wurde sozial immer isolierter. Mit verhaltenstherapeutischem Vokabular spricht man hier von einem »Verstärkerverlust«: Das heißt, so gut wie alles, was Frank vorher Spaß im Leben bereitet hatte, womit er sich belohnt fühlte, war weggefallen. Die Konsequenz war, dass er sich immer selbstunsicherer, schwächer und depressiver fühlte. Ein Teufelskreis.
    Viele Traumatisierte sitzen in dieser »Vermeidungsfalle« fest. Sie glauben sogar, es gehe gar nicht anders, da ihnen die Kraft und der Mut fehlten, etwas zu verändern. Sie haben sich gewissermaßen in einer Sackgasse festgefahren, aus der es kein Entrinnen gibt. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft können wir indes klar sagen, dass ein derartiger, vermeidender Bewältigungsstil ein eindeutiger Risikofaktor für das Entstehen oder Aufrechterhalten einer posttraumatischen Belastungsstörung ist, die ein Leben nachhaltig zugrunde richten kann.
    Die Betroffenen stehen vor einer für sie unlösbaren Aufgabe. Einerseits wollen sie nicht an das Trauma erinnert werden, weil es so unendlich schmerzt. Andererseits spüren sie, dass ihnen bei fortgesetzter Vermeidung alles entgleitet, sie nicht mehr funktionieren wie bisher. Wenn sie in dieser Phase zu mir in die Praxis kommen und Hilfe suchen, sind sie meist sehr verzweifelt und wollen nur noch weg von all dem, was ihnen das Leben so schwer macht. Am liebsten würden sie irgendein Wundermittel schlucken, das alles vergessen macht. Dieses Wundermittel ist letztlich der mutige Entschluss zur Konfrontation, ein anderes gibt es leider nicht. Nur die Auseinandersetzung mit dem unsäglich Schlimmen kann in ihnen neue Einsichten und Kräfte freisetzen.
    Diese Erfahrung kann man jedoch nur erlangen, wenn man sich der Erinnerung an das Trauma stellt. Es ist die Vermeidung, die sie mehr und mehr schwächt, am Ende dieser Spirale bleibt oft nur ein psychisches und physisches Wrack übrig.
    Die allermeisten Traumatisierten erkennen irgendwann klar, dass es keine Möglichkeit gibt, das Trauma zu vergessen, ungeschehen zu machen oder dauerhaft beiseite zu schieben. Wenn es diesen Weg nicht gibt und wenn die Person wieder an das psychische Funktionslevel anknüpfen möchte, über das sie vor dem traumatischen Ereignis verfügte, gibt es nur einen Weg: zurück durch das Trauma (siehe dazu auch die Skizze zur Traumabewältigung im Anhang). Dieses ist kein einfacher Weg, und für Viele muss er therapeutisch begleitet sein. Er bedeutet, sich den schmerzhaften Erinnerungen zu stellen, sich klar bewusst zu machen, wen oder was man verloren hat und welche Konsequenzen daraus entstanden sind. Es ist ein anstrengender

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