Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Weg, auf dem man sich in vielerlei Hinsicht dem stellen muss, was man nur allzu gerne vermeiden möchte: Denn er bedeutet, auf kognitiver, emotionaler und physiologischer Ebene Belastung, Anspannung und Stress auszuhalten.
Mutmacher 8
Wagen Sie einen kritischen Blick auf sich selbst und überprüfen Sie, ob Sie mit bestimmten Vermeidungsstrate gien versuchen, schmerzhaften Erinnerungen an kriti sche Situationen aus dem Weg zu gehen. Versuchen Sie, sich schwierigen Situationen zu stellen und dadurch neue Stärke zu erlangen.
Wenn Sie Ihr Vermeidungsverhalten allein nicht überwinden können, suchen Sie Hilfe bei einem Therapeuten, der Sie bei diesem Vorhaben unterstützt.
Hilfe durch eine qualifizierte Traumatherapie
Als Beispiel für diesen Erkenntnisprozess, den Traumatisierte durchlaufen müssen, bevor sie verstanden haben, dass nur die Konfrontation und intensive Auseinandersetzung mit dem Trauma weiterhelfen kann, möchte ich noch einmal die Geschichte der bereits erwähnten Krankenschwester aufgreifen.
Die traumatische Erfahrung
Die Frau wollte einen Gefangenen medizinisch versorgen, der sich beim Küchendienst in den Finger geschnitten hatte und stark blutete. Ein Bediensteter brachte ihn in das Behandlungszimmer und ging danach wieder auf seine Station zurück. Als sie sich vor dem Schrank bückte, um eine Flasche mit Desinfektionsmittel und etwas Verbandsmull herauszuholen, spürte sie einen harten Griff im Nacken und hörte die Worte: »Das ist eine Geiselnahme!« Dann zerrte der Täter sie auf einen Stuhl, fesselte sie an Armen und Beinen und verklebte ihr die Augen. Offenbar hatte er die Tat von langer Hand geplant. In ihr stieg eine lähmende Angst hoch, sie war zutiefst verunsichert, da sie nichts mehr sehen konnte und sich nur anhand von Geräuschen orientieren konnte. Plötzlich spürte sie die Hand des Häftlings auf ihrem Knie und hörte ihn sagen: »Ich werde mir gleich die Pulsadern aufschneiden! Vorher will ich noch ein wenig Spaß haben! Wenn du dich wehrst, nehme ich dich mit! Ich gebe dir fünf Minuten Zeit, dann kannst du mir sagen, wie du dich entschieden hast.«
Panik ergriff sie, sie ahnte, was er vorhatte, sie schwitzte, ihr Herz pochte bis zum Hals, die Augen brannten unter dem Klebeband.
Als er schließlich fragte, wie sie sich »entschieden« habe, nickte sie nur und sagte: »Ja.«
In den nächsten Minuten durchlitt die Frau ein Martyrium, dessen Details ich Ihnen ersparen möchte. Während er sie missbrauchte, klingelte das Telefon. Der Täter zwang sie, abzuheben. Am Apparat war eine Kollegin, die an die gemeinsame Mittagspause erinnerte. Unter Aufbietung aller Kräfte log sie und sagte, sie sei gleich fertig mit der Versorgung des Gefangenen. Als der Häftling endlich von ihr abgelassen hatte, zündete er zwei Zigaretten an, steckte ihr eine davon in den Mund und begann, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Sein Vater habe die Familie früh verlassen, die Mutter habe sich umgebracht. Danach sei er in ein Heim gekommen. Dort habe er viel Gewalt, sadistische Erzieher und sexuelle Übergriffe erlebt. Er schloss mit dem Satz: »Das, was meine Mutter geschafft hat, werde ich auch schaffen.« Dann riss er ihr das Klebeband von den Augen, zog einen Ring von seinem Finger und steckte ihn in die Tasche ihres Kittels: »Hier, der ist für dich, der ist was wert, den kannst du versetzen. Ich werde mich jetzt umbringen, du bleibst hier eine Viertelstunde sitzen, wenn du vorher aufstehst, wirst du es büßen!« Dann verband er ihr mit einer Mullbinde die Augen. Sie hörte, wie er sich am Schrank zu schaffen machte, dann ein Stöhnen. Als nach einer schier endlosen Zeit schließlich kein Laut mehr zu vernehmen war, wagte sie es, die Binde von den Augen zu nehmen und zum Telefon zu laufen. Das Bild des in einer Blutlache liegenden Gefangenen, an dem sie vorbei musste, verfolgte sie wochenlang.
Die psychischen Folgen
Die Schwester wurde zunächst krankgeschrieben und verbrachte die ersten Wochen nach dem traumatischen Erlebnis zuhause. Dort konnte sie jedoch kaum zur Ruhe kommen. Sie fragte sich, was sie hätte tun können, um die Geiselnahme zu verhindern, ob sie Anzeichen übersehen, was sie falsch gemacht habe, warum sie den Gefangenen nicht richtig eingeschätzt habe, ob sie dessen Suizid hätte verhindern können, sich hätte wehren müssen und so weiter und so fort. Wenn sie sich einmal nicht mit diesen Fragen quälte, überfluteten sie plötzlich Bilder aus dem Behandlungszimmer.
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