Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
den Toten aufrecht festzuhalten und an sich zu drücken. Oben angekommen, habe er ihn in den Umkleideraum, die sogenannte Waschkaue, transportiert, dort abgelegt – um dann erneut in den Schacht einzufahren und den nächsten Toten zu bergen. Später habe er »Spezialaufträge« ausführen und einen fehlenden Kopf oder ein Bein suchen und über Tage bringen müssen. Zwischendurch sei er auf dem Grubengelände mit verzweifelten Angehörigen und erschütterten Betriebsangehörigen konfrontiert gewesen.
Auf meine Frage, was von all dem das Schlimmste für ihn gewesen sei, antwortete er: »Dass ich ein Versager bin!«
Im ersten Moment war das für mich überhaupt nicht nachvollziehbar. In meinen Augen war er ein Held, der schier Übermenschliches geleistet hatte. Auf meine erstaunte Nachfrage erklärte er mir: »Ich bin ein Versager, weil ich es nicht geschafft habe, zu den weinenden Frauen zu gehen und ihnen ein Wort des Trostes zu spenden.«
Das Bergen der Toten und der Leichenteile sei furchtbar gewesen, auch die eigene Angst in den Griff zu bekommen, sei schwer gewesen. Das, was sich indes in seinem Unterbewussten festgesetzt habe, sei etwas anderes gewesen: Heute träume er fast jede Nacht von diesen verzweifelt weinenden Frauen – und er quäle sich mit seinem Unvermögen, sie zu trösten.
Der Kern seiner Belastung lag also nicht in seiner unmittelbaren Erfahrung, sondern in der, die damit indirekt verbunden war.
Etwas ähnlich Überraschendes erlebte ich in meinen Gesprächen mit der Erzieherin. Das Schlimmste für sie sei gewesen, dass sie ein halbes Jahr vor dem Messerattentat ein ungutes Gefühl gehabt habe (Stichwort »innere Weisheit«). Damals hatte das Team über eine Aufnahme des Jugendlichen in die Einrichtung debattiert. Kevin war ihr irgendwie unheimlich gewesen, und sie hatte ihn eigentlich nicht in die Gruppe nehmen wollen. Da alle anderen Kollegen jedoch dafür gewesen waren, habe sie geschwiegen. Mit anderen Worten: Im Grunde fühle sie sich selbst verantwortlich dafür, dass das Ganze passiert sei. Der Kern ihrer Belastung lag also in Schuldvorwürfen gegen sich selbst, da sie nicht auf ihre innere Stimme gehört hatte.
Das individuelle Trauma zu erkennen und vor allem zu benennen hat eine hohe Relevanz für die weitere Verarbeitung. Würde man mit dem Grubenwehrmann beispielsweise nur über das Bergen der Leichen sprechen, weil man davon ausgeht, dass dies die schwerste Bürde war, würde man an seinem wichtigsten Problem vorbeitherapieren. Für die Erzieherin ist wiederum die Auseinandersetzung mit ihren Selbstvorwürfen für die Verarbeitung des erlebten Traumas von entscheidender Bedeutung. Sie kann daraus nämlich einen wichtigen Schluss ziehen – für ihr Arbeits- wie für ihr Privatleben: sich mehr auf ihre innere Stimme zu verlassen, dazu zu stehen, auch wenn diese Meinung möglicherweise niemand teilt.
Wenn Therapeuten das individuelle Trauma nicht kennen, können sie ihren Patienten nicht wirklich helfen; und wenn die Betroffenen nicht genau benennen können, was sie so schwer getroffen hat, laufen ihre eigenen Bemühungen um eine Bewältigung am Zentralproblem vorbei, sie werden sich nie richtig davon befreien können.
Im Laufe meiner über zwanzig Jahre andauernden Arbeit mit Katastrophenopfern und Traumatisierten habe ich mit Hunderten Betroffenen solche minutiös rekapitulierenden Gespräche geführt. Kurz bevor ich die Frage nach dem individuellen Trauma stelle, mache ich häufig eine kleine Wette mit mir selbst, was das Schlimmste für meinen Patienten gewesen sein mochte. Eine Wette, die ich fast immer verliere! Meine ganze Erfahrung hilft mir so gut wie nichts, wenn es um eine Prognose geht, was wohl das Belastendste an einer traumatischen Erfahrung gewesen sein könnte. Weil wir letztlich doch immer von eigenen Prämissen, dem eigenen Erleben ausgehen. Unsere Tendenz, voreilig Schlüsse aus den Schilderungen eines Menschen zu ziehen, kann manchmal in die Irre – und damit an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeiführen. Etwa indem man Sätze sagt wie: »Sie hatten einen Autounfall und haben dabei ein Kind überfahren, ich kann mir vorstellen, was Sie durchgemacht haben …« Oder: »Er hat gesehen, wie seine Lehrerin erschossen wurde, ich weiß, wie es ihm geht …« – »Sie ist von zwei Männern brutal vergewaltigt worden, ich kann mir ausmalen, wie schrecklich das war …« – »Er ist von einem Jugendlichen niedergestochen worden, da muss er ja wohl nicht mehr
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