Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
dass sie nicht mehr der Situation angemessen reagieren, sondern so, als befänden sie sich in der damaligen Gefahrenlage. Hinterher darauf angesprochen, können sie in der Regel den Zusammenhang nicht herstellen, haben keine Erklärung für ihr »überzogenes« Verhalten.
Erst wenn bei solchermaßen Betroffenen ein Sicherheitsgefühl entstanden ist, mit sich und den eigenen Emotionen klarkommen zu können, ist der Grund für ein Ausblenden der Erinnerungen nicht länger gegeben, die Amnesie löst sich Schritt für Schritt auf. Diese Sicherheit kann durch die oben erwähnten »emotionalen Schleifen« zurückgewonnen werden. Die Betroffenen merken, dass ihre Emotionen kontrollierbar sind und sie nicht zwangsläufig von ihnen überflutet werden.
Im Fall der bereits erwähnten Erzieherin war es durch gezielte Fragen nach Details, an die sie sich noch erinnern konnte, möglich, nach und nach den gesamten Ablauf des Geschehens zu rekapitulieren: »Was haben Sie an jenem Morgen gefrühstückt?«, »Welche Farbe hatten die Socken, die Sie sich noch vor der Arbeit gekauft haben?«, »Welche Musik haben Sie auf dem Weg zur Arbeit gehört?«, »Was haben Sie als erstes gemacht, als sie dort ankamen?« usw.
Stück für Stück konnte sie tiefer in das Geschehen eintauchen und sich erinnern: Dass Kevin aufgrund eines belastenden Telefonats mit seiner Mutter hoch angespannt gewesen war, wie ein anderer Jugendlicher sie zu Hilfe gerufen hatte, da Kevin sich verletzt habe, wie sie ihn in der Küche über die Spüle gebeugt hatte stehen sehen und wie er sich dann umdrehte, sie hasserfüllt anschaute, sie anschrie und ihr dann mit aller Kraft die Faust in den Bauch stieß. Dass sie erst in dem Moment realisierte, als sie zusammenbrach, dass er in der Faust ein Messer gehalten hatte.
Aus zwei Gründen war für die junge Erzieherin das Wiedererlangen ihrer Erinnerung ausgesprochen wichtig und hilfreich: Erstens hatte sie sich bis dahin immer mit den beunruhigenden und beängstigenden Gedanken gequält, sie habe möglicherweise etwas falsch gemacht, den Jugendlichen vielleicht durch eine unbedachte Äußerung provoziert. Das exakte Rekapitulieren des Vorfalls – und das spätere Einbeziehen auch der Tage und Wochen davor – hat sie von dieser Last befreit. Zweitens hat sie durch das Schließen der Lücke eine wichtige Voraussetzung dafür geschaffen, ihr Trauma zu bewältigen: Das Trauma ist nicht länger abgespalten, sie kann sich dem Erlebten stellen, weil sie ihre gedankliche Vermeidung aufgegeben hat.
Den Kern der Traumatisierung aufspüren
Im nächsten Schritt der »kontrollierten Traumaexposition« geht es darum, die individuelle Traumatisierung der Betroffenen zu erkennen. In der Regel ist es ein ganz bestimmter Aspekt des Ereignisses, der den Kern der Traumatisierung ausmacht. Eine bestimmte Geste des Täters, ein Satz, der gesagt wurde, ein Begleitumstand, ein winziges Detail, das vielleicht zusätzlich an eine frühere dramatische Erfahrung erinnert. Auch für einen Therapeuten ist es nicht einfach, an diesen Punkt heranzukommen, den die meisten Betroffenen nicht ohne weiteres benennen können, – selbst bei einem tiefgehenden Gespräch.
Ich möchte zum besseren Verständnis dieser Problematik zwei Beispiele aus meiner Praxis berichten: Beim Grubenunglück von Borken kamen damals verschiedene Grubenwehren zum Einsatz. Als sie in den Schacht eingefahren waren, erkannten sie das unvorstellbare Ausmaß der Zerstörungen. Dicke Betonwände waren in Stücke gesprengt und aus der Grube geschleudert worden, Pfeiler, Stützen, die Schienen der Hängebahn unter Tage verbogen, zerrissene Kabel überall. Im gesamten Stollensystem hingen die giftigen CO -Gase in einer so starken Konzentration, dass ein Atemzug genügte, um einen Menschen zu töten. Ein Grubenwehrmann erzählte mir, wie deprimiert er von der Erkenntnis gewesen war, kein Leben mehr retten, sondern nur noch Tote bergen zu können. Wie groß seine Angst gewesen war, dass er mit seiner Atemschutzmaske an einem herumhängenden Metallteil hängen bleiben und durch das Einatmen der Gase elendig krepieren könnte. Wie er sich in der zerstörten Grube auf allen Vieren vorwärtsbewegte, kaum etwas sehen konnte und schließlich mit den Händen einen toten Körper ertastete. Wie er diesen dann mit einem Kollegen in einen Plastiksack hievte, um dann mit dem Toten auszufahren. Da diese Rettungskapsel aber nur einen Durchmesser von weniger als einem Meter hatte, war er gezwungen,
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