Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
erzählen …«
Eben doch! Weil jeder in dem Erzählten etwas anderes erkennt, das der eigenen Erfahrungswelt entnommen ist – aber nicht notwendigerweise mit dem Erleben des Betroffenen übereinstimmen muss.
Sowohl für die Opfer selbst als auch für deren Therapeuten ist es also von zentraler Bedeutung, den Kern der seelischen Erschütterung freizulegen, das individuelle Trauma zu erkennen. Dafür bedarf es des genauen Hinsehens, jedes Detail kann wichtig sein, nichts darf aus Vermeidungsgründen ausgeblendet werden. Die kontrollierte Traumaexposition bedeutet ein gründliches Aufräumen, Ordnen und Sortieren der erschütternden Erlebnisse.
Um zum Bild des Kleiderschranks zurückzukehren: Der gesamte Inhalt des Schrankes muss betrachtet werden, auch die Kleinigkeiten, vor allem die »Sortierung« vor dem Unglück. Denn auch wie ein Betroffener vorher seinen ganz persönlichen Schrank definiert hat, ist wichtig, um die anschließende Verheerung nachvollziehen zu können. Gemeinsam und Schritt für Schritt wird nun das zusammengesucht, was zusammengehört, und systematisch wieder in die dafür vorgesehenen Fächer eingeordnet. Wenn man dann vor der geöffneten Tür steht, kann man den gesamten Inhalt wieder überblicken und muss keine Angst mehr davor haben, dass irgendein Teil unkontrolliert herausfällt. Es ist ein beruhigendes Gefühl, einen aufgeräumten Schrank vor sich zu haben – auch wenn dessen Inhalt nicht schön ist.
Für einen Teil meiner Patienten (in der Mehrzahl solche, die kein schweres Trauma, sondern leichtere bis mittelschwere Belastungen erlebt haben) reicht diese »Aufräumarbeit« auf kognitiver Ebene, um danach wieder das Gefühl zu haben, keine fremde Hilfe mehr zu benötigen. Die Erfahrung nach dem Gespräch, entgegen ihren Befürchtungen nicht verzweifelt zusammmengebrochen zu sein, sondern die schrecklichen Erlebnisse ausgesprochen und sortiert zu haben, hat sie selbstbewusst gemacht, ihnen eine neue Stärke verliehen. Sie haben ihre Überlebenskraft im Fokussieren auf das Schmerzhafte wiedergefunden. Das bedeutet eine wesentlich wirksamere Stabilisierung für die Patienten als die sogenannten »Stabilisierungsübungen«, mit denen man sich in eine heile oder sichere Welt imaginiert, die Auseinandersetzung mit dem Trauma aber letztlich vermeidet. Oder, um noch einmal das Bild des »umgekippten Kleiderschranks« aufzugreifen: Nach dem Sortieren und Aufräumen des Inhalts kann der Betroffene sagen: »Es ist schlimm, was passiert ist, aber ich kann darüber reden und es mir anschauen, ohne zusammenzubrechen.« Er spürt nun, dass seine Überlebenskraft stärker ist als das Trauma. Darauf kann er alles Weitere aufbauen und neue Wege für sein Leben finden.
Emotionale Verarbeitung
Bei denjenigen, die nicht das Gefühl haben, das Trauma nun aus eigener Kraft bewältigen zu können, liegt der Schwerpunkt im weiteren Verlauf der Therapie auf der emotionalen Verarbeitung. Die Erinnerung an das schreckliche Ereignis ist immer mit Gefühlen der Angst, der Trauer, der Panik, der Hilflosigkeit und Verzweiflung, möglicherweise des Ekels verbunden. Weil wir diese Gefühle als zu belastend empfinden, versuchen wir, sie zu vermeiden. Auch physiologisch sind wir so gestrickt: Wenn uns eine Stelle im Körper schmerzt, zum Beispiel das Knie, nehmen wir automatisch eine Schonhaltung ein, ohne dass dies bewusst gesteuert wäre. Wir spüren dann den Schmerz weniger häufig oder weniger intensiv, handeln uns aber eine Menge Folgeprobleme ein. Aufgrund einer eigentlich unnatürlichen Haltung werden wir immer verspannter – und das greift auf andere, ursprünglich unbeteiligte Körperregionen über. Auf die Hüfte, den Rücken, den Nacken und so weiter.
In der Phase der emotionalen Traumaverarbeitung wollen wir erreichen, dass der Schmerz so verarbeitet wird, dass es nicht länger nötig ist, ihm auszuweichen und »Schonhaltungen« einzunehmen, von denen wir wissen, dass sie das Leben eines Traumatisierten immer mehr einschränken und ihm den Zugang zu seiner Überlebenskraft und den aus der Bewältigung erwachsenden neuen Kräften verschließt.
Um diese seelischen Schmerzen einer Verarbeitung zugänglich zu machen, muss man diese zunächst einmal auslösen. Das geschieht nicht, weil Therapeuten die Patienten unnötig quälen oder gar retraumatisieren wollen, sondern weil wir sie in der Verhaltenstherapie lange bekanntes und wissenschaftlich belegtes Phänomen nutzen wollen – die bereits erwähnte
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