Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
nur beim Ablauf zu bleiben, damit ich mir alles genau vorstellen kann. Über Ihre Gefühle werden wir später noch ausführlich sprechen. Ist das in Ordnung?«
Nachdem die Patientin zugestimmt hat, fragt er weiter auf der Faktenebene: »Was haben Sie genau gesehen? Wie lag er da?«
Durch diese Fragen weiß die Frau einerseits, dass der Therapeut ihre starke Betroffenheit versteht und dass sie darüber später sprechen kann, andererseits muss sie sich auf ihre Erinnerung konzentrieren und beschreiben, was sie damals vom Balkon aus genau gesehen hat – waren die Beine verdreht, die Arme, auf welcher Seite lag er usw. Durch die Veränderung des Fokus auf die beobachteten Fakten, auch wenn sie noch so grauenhaft sein mögen, gewinnt sie ihre Fassung wieder, sie schnäuzt sich die Nase, hört auf zu weinen und schildert ihre Beobachtungen. Die kognitive Ebene ist aktiviert. Der Mutter gelingt es nun, eine sehr detailgetreue Schilderung des gesamten Ereignisses auf der Sachebene wiederzugeben: vom Moment des Sturzes über das Eintreffen des Notarztes, den Flug mit dem Rettungshubschrauber in die Klinik, die Untersuchungen und Rettungsversuche der Ärzte – bis zu dem Punkt, als der Tod des Kindes festgestellt wurde.
Solche emotionalen Schleifen führt der Therapeut immer wieder an jenen Stellen durch, an denen er eine emotionale Beteiligung wahrnimmt. Trotz der Tragik und aller Belastung wird die Frau am Ende des Gesprächs eine neue Stärke empfinden, da sie es geschafft hat, alles detailgetreu zu erzählen, ohne dabei zu dekompensieren. In ihr entsteht bereits an dieser Stelle ein leises Gefühl dafür, was es heißen kann, über dem Trauma zu stehen, damit zurechtzukommen, auch wenn es noch so traurig ist. Sie hat Kontakt mit ihren Überlebenskräften bekommen.
Anschließend bittet der Therapeut die Patientin, ihm zuzuhören und ihn gegebenenfalls zu berichtigen: Denn nun wird er ihr die ganze Geschichte anhand seiner schriftlichen Aufzeichnungen noch einmal schildern. Die Patientin hört sich also ihr eigenes Erlebnis erneut an – sozusagen aus zweiter Hand. Dies sowie die Aufforderung, korrigierend einzugreifen, führt zu einem Erleben aus der Distanz und zu einer teilweisen Wiedererlangung ihres Kontrollgefühls. Diese Erfahrung der emotional kontrollierten Konfrontation mit ihrem Trauma gibt der Betroffenen die notwendige Stabilität für die weiteren therapeutischen Schritte.
Vollständige Erinnerung
Mit Hilfe dieser »kontrollierten Traumaexposition« lassen sich auch häufig Erinnerungslücken schließen. Durch das »zentimeterweise« Vorgehen fallen den Patienten oft Details ein, an die sie nie gedacht hatten, obwohl sie ihre Geschichte schon viele Male erzählt hatten.
Die bereits vorgestellte Erzieherin, die durch eine Messerattacke lebensgefährlich verletzt worden war, litt nach dem Vorfall unter einer kompletten Amnesie; sie konnte sich an nichts erinnern, obwohl sie von den betreuenden Ärzten, Psychiatern und von der Kriminalpolizei mehrfach befragt worden war. Für die Erinnerungslücke gab es keinerlei medizinische Erklärung. Aus psychologischer Sicht treten solche Amnesien häufig dann auf, wenn die Betroffenen (unbewusst) fürchten, sie könnten mit ihren dann auftretenden Gefühlen nicht umgehen. Insofern ist das »Vergessen« ein Schutzmechanismus unserer Seele, der bis zu einem gewissen Punkt Sinn macht. Die traumatische Erfahrung ist so mächtig, dass sie nicht vollumfänglich von unserem Bewusstsein aufgenommen werden kann. Wie eine Sicherung, die plötzlich herausspringt, weil das System sonst überfordert wäre, wird das traumatische Ereignis vom Bewusstsein abgespalten. Aber daraus zu folgern, dass es dadurch möglicherweise ganz vergessen würde, ist ein Trugschluss.
Dieser Schutzmechanismus ist nur für eine relativ kurze Zeit wirklich sinnvoll, später kann er zu einem gravierenden Problem werden. Der Körper und das Unbewusste »merken« sich nämlich bestimmte Charakteristika der Situation und melden später, in einer an sich neutralen Situation: GEFAHR ! Ein Geräusch, ein Geruch, der Anblick einer bestimmen Farbe reicht aus, um Panik auszulösen. Die Betroffenen können oft nicht sagen, was genau dieses Gefühl ausgelöst hat. Sie fühlen sich höchst angespannt, verwirrt, haben starke körperliche Begleiterscheinungen und möchten nur noch fliehen. Wenn sie in dieser Situation von einem Menschen angesprochen werden, der in irgendeiner Weise dem Täter ähnelt, kann es sein,
Weitere Kostenlose Bücher