Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
»Habituation«.
Wenn wir uns in eine Situation begeben, die uns Angst macht (objektiv gesehen aber ungefährlich ist), erleben wir regelmäßig, dass wir uns zunächst sehr überwinden müssen, unsere Angst auch eine gewisse Zeit lang steigt, dann aber auf einem Plateau stehen bleibt, um anschließend langsam wieder abzufallen. Am Schluss stellen wir erleichtert fest, dass wir uns zwar immer noch in der ursprünglich Angst auslösenden Situation befinden, unsere starken physiologischen Angstsymptome aber deutlich abgeklungen sind. Wir haben uns an die Situation gewöhnt, wir haben »habituiert«.
Eine solche Erfahrung hat jeder von uns schon einmal gemacht, etwa wenn wir uns überwinden, etwas Unangenehmes, Beängstigendes, lange Aufgeschobenes endlich in Angriff zu nehmen. Wenn wir uns einer Aufgabe, die uns vorkam wie ein unüberwindlicher Berg, endlich stellen, wirken unsere Ängste im Nachhinein oft völlig überzogen: »Was? Davor habe ich mich so lange gedrückt? War ja gar nicht so schlimm!« Auf die Therapie übertragen heißt das, den Betroffenen mit seiner konkreten Angst zu konfrontieren. Dabei ist es wichtig, die Konfrontation lang genug aufrechtzuerhalten, damit der Habituationseffekt sich auch wirklich einstellen kann.
Solche Expositionstechniken (ein Mensch mit Höhenangst erklimmt einen hohen Turm, ein Arachnophobiker wird dem Anblick einer Spinne ausgesetzt) kann man sowohl in Gedanken als auch in der Realität durchführen. Beides dient dem Ziel, die Betroffenen so lange mit ihren inneren, sie quälenden Gefühlen und Gedanken zu konfrontieren, bis deren aversive Qualität deutlich nachgelassen hat.
Traumadrehbuch
Um die Konfrontation durchführen zu können, erstellen die Patienten gemeinsam mit dem Therapeuten ein sogenanntes Traumadrehbuch. Das besondere an diesem »Drehbuch« ist die Tatsache, dass es im Präsens geschrieben ist, also ganz so, als finde das schlimme Ereignis/der Schicksalsschlag im Hier und Jetzt statt. Das Traumadrehbuch beginnt an einem Punkt, als alles noch normal war, beschreibt dann sämtliche mit Stress, Anspannung und Belastungen verknüpften Punkte, besonders die Situationen extremer Panik und Todesangst. Bis die Geschichte zu einem Ruhepunkt gelangt, an dem die (Todes-) Gefahr vorüber, der Betroffene sich wieder in Sicherheit befindet und die akute Krisensituation zu Ende ist.
Im Gegensatz zur vorherigen Konzentration auf die kognitive Ebene und dem Versuch, die Emotionen hintanzustellen, ist es nun gewünscht, die belastenden Gefühle bei der Erinnerung an das traumatische Ereignis deutlich zu spüren. Wichtig ist dabei, dass die Betroffenen sich nicht ablenken, sondern die eigenen schmerzhaften Gefühle bewusst spüren und wahrnehmen.
In der Durchführung dieser gedanklichen Exposition liest der Patient dem Therapeuten sein Traumadrehbuch vor und stuft an den jeweils besonders beängstigenden Punkten, die vorher festgelegt wurden, seine aktuell empfundene Belastung ein (auf einer mit ihm verabredeten Skala von 0 bis 10, wobei 0 bedeutet: neutral, keine Belastung, 10 die maximal empfundene Belastung). Unmittelbar danach liest der Therapeut dem Patienten das Traumadrehbuch vor, und dieser stuft wiederum jeweils an den relevanten Punkten seine empfundene Belastung ein. Dieses gegenseitige Vorlesen und Einstufen wird so lange durchgeführt, bis der Patient eine deutliche Reduktion seiner Belastungswerte spürt.
Bei jener Mutter, die ihr Kind durch den Sturz vom Balkon verloren hatte, konnte man die Entwicklung im Verlauf der Durchgänge sehr gut beobachten. Anfangs musste sie sich unter großer Anstrengung durch das Traumadrehbuch durchkämpfen, ihr versagte immer wieder die Stimme, die Tränen liefen, sie saß sehr angespannt auf der Kante ihres Sessels. Wenn sie mir beim Vorlesen zuhörte, knetete sie angespannt ihre Hände, schluchzte immer wieder auf. Auch ich empfand es als anstrengend und sehr belastend, die tragische Geschichte immer wieder zu lesen oder zu hören. Im Laufe der Zeit wurde sie jedoch ruhiger, die Tränen wurden weniger, die Stimme fester, die Körperhaltung entspannter. Gegen Ende der Exposition (nach dem 14. Durchgang!) saß sie nach hinten gelehnt in ihrem Sessel, hatte die Augen geschlossen, der Atem ging ruhig, die Hände lagen locker auf ihren Beinen. Die Belastungswerte waren immer weiter gesunken von anfänglich 10 bis auf 1 oder 2. Den Habituationseffekt konnte auch ich als Therapeut deutlich spüren, die schreckliche Geschichte
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