Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
verlor mehr und mehr an Brisanz, obwohl sie natürlich traurig blieb.
In der Auswertung gab die Mutter später an, sie könne über das tragische Geschehen nun sagen: »Ja, so war das. Ich kann mir das alles anhören oder selbst vorlesen und kann dabei ruhig bleiben.« Durch das wiederholte Durchgehen des Geschehens konnte die Mutter eine gewisse Distanz dazu entwickeln und den Tod des Kindes langfristig als einen von vielen Aspekten ihrer Biografie einordnen. Die anfangs überbordenden Gefühle der Schuld und des Versagens traten in den Hintergrund, so dass sie nach einigen Wochen sagen konnte: »Ich kann mich jetzt viel besser auf mein Kind konzentrieren und es besser betrauern.«
Oft ist es nämlich so, dass Traumatisierte, die einen schweren Verlust erlebt haben, aufgrund ihrer starken Symptomatik und ihrer Vermeidungshaltung gar nicht richtig trauern können. Diese Trauerphase ist wichtig und ganz normal, doch wird sie allzu oft überlagert von den eigenen Panik-, Angst- und Schockgefühlen. Die Mutter konnte nach dieser Intervention in einer ganz anderen Intensität Trauerrituale ausführen. Sie konnte sich freier an ihr Kind erinnern, auf dem Friedhof Kerzen und Blumen aufstellen, in Kontakt mit der Seele des Kindes treten und es sich friedlich in Gottes Händen im Himmel vorstellen, was ihr als gläubiger Mensch unendlich wichtig war. Durch ihre schwere Traumasymptomatik hatte sie nicht zu der Ruhe finden können, die sie sich aufgrund ihres Glaubens ersehnt hatte.
Das Traumadrehbuch spielt auch in der weiteren Therapie immer wieder eine wichtige Rolle. Lange nach Ende der Therapie sagte die Mutter in einem Nachgespräch zu mir: »Immer wenn es mir mal wieder an einem Tag nicht gut geht, ich wieder verzweifelt bin, dann nehme ich mir das Traumadrehbuch vor, das ich in einem Schrank eingeschlossen aufbewahre. Ich lese es einige Male durch, merke, wie ich dabei ruhiger werde, und verschließe es danach wieder. Anschließend geht es mir deutlich besser!«
Wie ein solches Traumadrehbuch aussehen kann, möchte ich Ihnen an einem weiteren Beispiel verdeutlichen. Es stammt von der bereits vorgestellten Erzieherin:
»Ich fahre mit meinem Auto, begleitet von Musik, zu meiner Arbeitsstelle. Hinter der Bäckerei biege ich links ab. Mein üblicher Parkplatz ist besetzt, und ich parke direkt an der Hauswand vor der Einfahrt zum Hof der Gruppe.
Meine schwarze Tasche sowie meinen Rucksack mit den üblichen Dingen für meinen Nachtdienst hole ich hinter dem Fahrersitz beziehungsweise Beifahrersitz hervor und verschließe mein Auto. Ich gehe über den Hof und brauche gar nicht meinen Schlüssel hervorzuholen, da die Kinder mir schon die Tür öffnen. Laut und fröhlich werde ich begrüßt.
Fredi erzählt mir von Zetteln, die in der Wohnung als Wegweiser hängen. Ich kann ihm nicht richtig folgen und versuche ihn erst einmal mit dem Erzählen zu stoppen. Ich bringe meine Tasche in das Bereitschaftszimmer, gehe zurück zu den Kindern und schaue mir die Zettel an. Da Kevin erneut die Schule geschwänzt hat, wurden sein Bett und sein Schreibtisch auf den Balkon gestellt. Auf den Zetteln stehen Hinweise für ihn als Wegweiser zu seinem »neuen Zimmer«. Ich bin etwas genervt von der Information, dass Kevin nicht in der Schule war und trotz Verbotes das Haus durch das Badezimmerfenster heimlich verlassen hat.
Im Büro können Michael und ich dann endlich unser Übergabegespräch führen. Draußen ist es noch recht unruhig, ich kann die Kinder hören und weiß, dass es etwas Zeit dauern wird, sie alle pünktlich auf ihre Zimmer zu verteilen.
Es gibt ein lautes Geräusch. Irgendetwas ist in dem Zimmer über uns passiert. Michael sieht nach. Er berichtet mir, dass Kevin das Telefon an die Wand geworfen hat.
»Auch das noch! Es wird wohl doch kein so ruhiger Abend!« Michael bietet mehrere Male an, dass er noch bleiben könnte. Ich lehne sein Angebot ab und versuche ruhig zu wirken, obwohl ich innerlich doch angespannt bin. Bevor er sich verabschiedet, fällt mir auf, dass er sich unwohl fühlt mit der Entscheidung, nach Hause zu fahren.
Tom steht vor der Bürotür und bittet mich, ich solle nach Kevin schauen, der sich irgendwie verletzt hat. Soll ich schon ein Pflaster mitnehmen? Ich entscheide mich, erst einmal nach ihm zu schauen, und verlasse das Büro. Ich gehe zu ihm in die Küche und denke daran, wie er sich wohl verletzt hat.
Ich betrete die Küche. Kevin steht an der Spüle, den Rücken zu mir gedreht.
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