Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
natürlich nicht an dieser Grenze halt. Millionen von Menschen außerhalb dieser Zone, selbst im weit entfernten Tokio, waren zutiefst verunsichert.
Was das für die Kinder bedeutete, konnte ich selbst bei einer überraschenden Begegnung am Bahnhof erleben. Ich wartete auf den Zug, mit dem ich zu einem Vortrag in eine andere Stadt fahren wollte. Normalerweise treffe ich am Gleis nur auf wenige Mitreisende, doch diesmal tummelten sich dort zahlreiche Menschen, die wegen eines Triebwerkschadens der Lok in unserem kleinen Ort gestrandet waren. Darunter waren auch knapp zwanzig japanische Kinder aus der Region Fukushima mit fünf Betreuern. Ich erinnerte mich an einen Zeitungsartikel, der darüber berichtet hatte, dass die Gruppe zu einem 14-tägigen Erholungsurlaub nach Mittelhessen eingeladen worden war.
Ich beobachtete die Kinder eine ganze Weile. Sie lachten und tollten herum, machten auf den ersten Blick einen ganz »normalen« Eindruck. Kurz darauf kam ich mit einer der Betreuerinnen ins Gespräch und fragte sie, wie sehr dieser Zwischenfall ihre Reisepläne störe. Sie lächelte und antwortete, dass solche Kleinigkeiten nach dem Erleben der großen Katastrophe niemanden der Gruppe aus der Fassung bringen würden. Als ich dann aber wissen wollte, wie es denn den Kindern gehe, wurde sie ernst. Diese würden nach außen hin zwar fröhlich wirken, im Inneren aber sähe es ganz anders aus. Sie könnten sich keine Zukunft mehr vorstellen, fühlten sich von jeder Entwicklungsmöglichkeit abgeschnitten.
Von genau diesem Gefühl berichtet auch eine sehr bedrückende Fernseh-Dokumentation, die ich im März 2012 sah. Unter dem Titel »Die Kinder des Tsunami« schildern viele Kinder aus Fukushima ihre Erlebnisse nach dem Beben, der Flutwelle und der folgenden Atomkatastrophe. Man sieht verzweifelte Eltern, die jeden Tag mit einem Messgerät den Boden untersuchen, bevor sie ihren Kindern erlauben, draußen zu spielen. Wie sie ihren Kindern einschärfen, nur an bestimmte Orte und auf keinen Fall an bestimmte andere zu gehen. Kinder erzählen vor der Kamera nicht nur über ihre traumatischen Erlebnisse während der verheerenden Flut (also der realen Bedrohung, der sie ausgesetzt waren), sondern auch von ihrer Angst vor strahlenbedingten Krebserkrankungen, die im weiteren Leben auf sie zukommen könnten (einer potenziellen, noch nicht greifbaren Bedrohung). Eltern sitzen mit Tränen in den Augen neben ihren Kindern und hören, wie diese sagen, dass sie sich ein Leben ohne Angst gar nicht mehr vorstellen können. Zukunft ist für diese Kinder nicht länger besetzt mit Träumen, wie das Leben als Erwachsener einmal sein wird, sondern mit Düsternis und Horror. Kinder sind für eine Gesellschaft das Versprechen für eine hoffnungsvolle Zukunft, das Versprechen, dass es weitergehen wird. Wenn aber die Kinder keine Hoffnung mehr haben, ist die Zukunft der ganzen Gesellschaft infrage gestellt.
Nach den vielen Katastrophen, mit denen ich in den vergangenen Jahrzehnten als Therapeut zu tun hatte, ist mir bei Kindern immer eines aufgefallen: dass ihre Hoffnung, ihr Überlebenswille, ihr Vertrauen in den Neubeginn stärker sind als alle Zerstörung, die über ihren Ort oder ihre Familie hereingebrochen ist. Die Gewissheit, dass neue, positive Kräfte Leid und Verheerung überwinden werden, hat die Menschheit über Jahrtausende aufrechterhalten. In jeder Kultur und zu allen Zeiten haben Eltern alles dafür getan, dass ihre Kinder es einmal besser haben werden als sie selbst. All das ist durch eine atomare Katastrophe aus den Fugen geraten. Ich selbst musste feststellen, dass all unsere bewährten Traumatherapie-Konzepte und aller durch Erfahrung begründeter Optimismus auf ein neues Wachstum der Überlebenskräfte angesichts eines Atomunglücks infrage gestellt sind. Bei Kindern, die Opfer anderer Katastrophen geworden sind, weiß ich, dass diese Konzepte greifen. Bei denen aber, die in eine atomar verseuchte Welt hineinwachsen, bleibt uns fürs Erste nur die Hoffnung, dass nicht Tausende hoffnungsvoller Lebenskonzepte von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, sondern dass die Überlebenskräfte sich auch in diesem Fall als stärker erweisen als alle Zerstörung.
Schweigen heißt nicht Bewältigen
Nicht nur bei solchen Katastrophen, die Zehntausende Menschen ihrer Lebensgrundlage berauben, sondern auch bei »kleineren« Unglücken oder familiären Schicksalsschlägen geraten gerade die Kinder nach Abflauen der ersten Welle an
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