Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
glauben, sie hätten keinen Leidensdruck, nur weil sie nicht darüber reden. Andererseits verfügen vor allem kleinere Kinder über erstaunliche Selbstheilungskräfte, die sie durch eine bestimmte Form der Konfrontation wecken. Nach Unfällen und Katastrophen kann man Kinder beispielsweise dabei beobachten, wie sie Teile der traumatischen Situation immer wieder durchspielen. Ein Junge, der eine Massenkarambolage auf der Autobahn miterlebt und dabei die Schwester verloren hatte, stellte mit kleinen Matchbox-Autos immer wieder einzelne Szenen nach: wie die Autos ineinandergekracht waren oder sich der Krankenwagen den Weg durch das Chaos gebahnt hatte, um die Verletzten zu bergen und anschließend in die Klinik zu fahren. Auch die Beerdigung der Schwester inszenierte er immer wieder, was für die Mutter sehr belastend war.
Kinder können sich mit solchen »Spielen« oft wochenlang beschäftigen, bis sie kein Interesse mehr daran haben und das Thema für sie mehr und mehr in den Hintergrund rückt. Was manche Eltern schon als krankhaft empfinden oder auch als Belastung der eigenen Psyche, ist für die Kinder eine wichtige Art der Selbstheilung. Sie erinnert dabei an die oben beschriebene Methode in der Psychotherapie, nach der man Personen immer wieder dazu auffordert, das traumatische Erlebnis zu schildern – bis die starken Belastungssymptome deutlich nachlassen oder sogar ganz verschwinden. Kinder tun das eher spielerisch, weniger verbal.
Erwachsene, die mit Kindern über deren traumatische Erlebnisse reden wollen, um ihnen zu helfen, machen häufig die Erfahrung, dass die Kinder abblocken und sich verweigern. Es entspricht nicht ihrem Bedürfnis, sich wie Erwachsene hinzusetzen und ernsthaft über »die Sache« zu reden. Ein Grund für diese Verweigerung kann sein, dass sie die Erwachsenen schützen wollen, wie im Fall von Meiko. Oder sie sind einfach nicht in der entsprechenden Stimmung und haben in diesem Moment auch keinen Zugang zu ihrer verletzten Seele. Kinder dann zu drängen, sich zu öffnen, macht überhaupt keinen Sinn. Man kann nicht zu ihrem Inneren vorstoßen, und das Ergebnis ist oft das Gegenteil dessen, was man erreichen wollte. Erwachsene Bezugspersonen müssen Kindern vielmehr durch ihre Haltung deutlich machen, dass sie um die schwere Belastung wissen und ihre Kinder damit nicht alleine lassen. Dass sie immer da und bereit sind, ihnen zuzuhören und mit ihnen zu reden, wenn diese das Bedürfnis dazu haben.
Diese Momente können recht unerwartet kommen, das habe ich während meiner Arbeit mit Kindern in der Zeit nach dem Borkener Grubenunglück selbst erlebt. Die Kinder, die allesamt ihre Väter verloren hatten, wollten sich nicht in Gruppen an einen Tisch setzen und über ihre Situation reden. Manche malten zwar hin und wieder Bilder, Spiegelbilder ihres Inneren – Monster, die sie nachts bedrohten, oder Zeichnungen von Unfällen und Explosionen. Aber sie wollten kaum über die verstörenden Motive sprechen. Ich musste also einen anderen Rahmen finden und ging daher mit der Zeit dazu über, mit ihnen im Garten auf einer großen Wiese zu spielen: Verstecken, Tischtennis, Fußball und dergleichen. Ein Ortswechsel, die Bewegung in einem Raum, der nicht mit »Problembewältigung« assoziiert wird, hat oftmals verblüffende Wirkung. So auch diesmal: Wir veranstalteten ein kleines Elfmeterturnier, bei dem die Kinder und ich im Wechsel schossen oder im Tor standen. Wer als Torwart fünf Elfmeter kassiert hatte, schied aus. Ich stand gerade im Kasten, hatte mir bereits vier Treffer eingehandelt, drohte also bald aus unserem Turnier zu fliegen. Alles hing vom nächsten Schützen ab, einem kleinen Jungen, der sich sorgfältig den Ball zurechtlegte und Anlauf nahm. Schütze und Torwart waren hoch konzentriert, der Junge zog ab und rief im selben Moment aus: »Wo ist denn mein Papa jetzt?« Ich hielt verdutzt inne, der Ball landete im Netz und der Schütze drehte jubelnd ab.
Aus solchen Situationen ergaben sich meist Gespräche, in diesem konkreten Fall über die Vorstellungen des Jungen über das Leben nach dem Tod; denn er fragte sich, ob der Papa im Himmel wohl gesehen habe, wie gekonnt sein Sohn den Ball versenkt hat.
Ein Mädchen aus der Borken-Gruppe, die nie über ihren Kummer nach dem Verlust des Vaters hatte reden wollen und nicht nur ihrer Mutter, sondern auch der Klassenlehrerin Sorgen bereitete, weil sie in der Schule sehr ruhig geworden und in den Leistungen stark abgefallen war, zeigte
Weitere Kostenlose Bücher