Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
dieses Gesicht zunächst immer bedrohlicher, unangenehmer, die Belastung steigt. Ich fokussiere jedoch immer wieder nach kurzer Unterbrechung der Augenbewegungen auf das Gesicht. Es bekommt im weiteren Verlauf unnatürliche Konturen, die es noch grässlicher erscheinen lassen. Ich scheine es zu verlieren, konzentriere mich aber immer wieder neu darauf, auch wenn es unangenehm ist. Es wird immer größer und runder und ähnelt mehr und mehr einem aufgeblasenen Ballon mit einer Fratze. Plötzlich sehe ich, wie dieser Ballon wie ein Luftballon, den man stark aufgeblasen hat und dann loslässt, ohne einen Knoten in das Mundstück gemacht zu haben, mit einem »Furzgeräusch« in die Luft torkelnd, aufsteigend entschwindet. Er wird kleiner und kleiner und fällt schließlich als schrumpeliges, ausgeleiertes, kraftloses Überbleibsel auf den Boden. Ich laufe weiter und lasse es hinter mir. Ich spüre eine deutliche Erleichterung. Ich atme freier, mein Körper ist in einem angenehmen Rhythmus. Nachdem ich den Anstieg überwunden habe, entwickelt sich beim Herunterlaufen der Satz: »Ich steh drüber!« Ich sage mir diesen Satz immer wieder im Rhythmus des Laufens: ICH (re.) – STEH (li.) – DRÜBER ! (re.), ICH (li.) – STEH (re.) – DRÜBER ! (li.) … und ich bemerke ein Lächeln in meinem Gesicht.
Mutmacher 13
Gehen Sie Ihre Belastungen aktiv an, probieren Sie die Kombination aus Augenbewegungen und Walking einfach einmal aus. Wenn Sie Übungen wie diese immer wieder durchführen, werden Sie feststellen, dass durch diese Konfrontation die Intensität der Belastung deutlich abnimmt und Ihr Gefühl, Schwierigkeiten selbst meistern zu können, stetig wächst.
Den Ort des Geschehens besuchen
Ein weiterer wichtiger Schritt in der Traumabewältigung sind Verhaltensübungen, mit denen man Vermeidungsstrategien angehen kann. Viele Betroffene scheuen sich davor, Orte aufzusuchen, die an das schreckliche Ereignis erinnern. Das können Plätze oder Räume sein, die mit dem traumatischen Erlebnis zusammenhängen oder die mit dem Tod eines geliebten Menschen verbunden werden. Besonders der Ort, an dem das traumatische Ereignis stattgefunden hat, löst bei den meisten starke Angst- und Panikgefühle aus. Viele Traumatisierte nehmen oft weite Umwege in Kauf, um diesen Ort nicht wiedersehen zu müssen. Betroffene von Autounfällen zum Beispiel fahren oft gewaltige Umwege, um nicht an der Unfallstelle vorbei zu müssen. Augenzeugen des Amoklaufs von Meißen mieden die Stelle im Schulflur, an der die tote Lehrerin gelegen hatte. Angehörige des ICE -Unglücks von Eschede fuhren nicht mehr mit der Bahn, wollten auf keinen Fall den Ort der Katastrophe passieren, selbst Hamburg nicht, die Stadt, in der die Zugfahrt hätte enden sollen. Sie glaubten, dort werde etwas Schlimmes passieren, sie würden einen Nervenzusammenbruch erleiden oder irgendwie »durchdrehen«. All die negativen oder angstbesetzten Emotionen werden auf einen Ort projiziert, der so eine Gefährlichkeit bekommt, die objektiv natürlich nicht vorhanden ist. Aber die Geschichte geht noch weiter: Die Vermeidungshaltung hat die Tendenz, sich auszubreiten. Straßenbahngeleise erinnern plötzlich an den entgleisten ICE -Zug, eine Kreuzung mit einem gelben Haus gleicht der Ecke, an der ein tödlicher Unfall geschah. Es können auch bestimmte Gerüche sein, die mit einer Katastrophe verbunden sind und plötzlich an einem neutralen Ort auftreten und den Betroffenen in psychische Bedrängnis bringen. Es ist wie mit einem Korb voller schöner Äpfel, in dem eine faulige Frucht liegt und die anderen nach und nach ansteckt. In der Diktion der Verhaltenstherapie sprechen wir hier von einer »Generalisierungstendenz des Vermeidungsverhaltens«.
Kommt es zu einer solchen Generalisierung, können auch gute Erfolge, die in der Therapie der individuellen Aufarbeitung bis zu diesem Punkt erreicht wurden, wieder zunichtegemacht werden. Um das zu vermeiden, besprechen wir mit den Betroffenen den Verlauf der Angstkurve. Also wie es sein wird, wenn sie die Unfallstelle aufsuchen: dass Angst und Anspannung zunächst steigen, dann auf einem Plateau stagnieren werden – um dann wieder abzufallen. Wir begleiten die Patienten in der Situation und motivieren sie, dort so lange stehen zu bleiben, bis sie eine deutliche Entlastung spüren. Der Therapeut zieht sich dabei so weit zurück, dass die Patienten das Gefühl haben, es alleine zu schaffen, und nicht nur, wenn der Therapeut eng an ihrer
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