Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Mitgefühl schnell wieder aus unserem Blickfeld. Das liegt auch daran, dass Kinder nach einer Katastrophe nicht oder nur sehr wenig über ihre verletzten Seelen reden und wir daraus fälschlicherweise den Schluss ziehen, sie hätten das Ereignis ganz gut verkraftet. Ohne therapeutische Behandlung sorgen die schlimmen Erinnerungen jedoch dafür, dass es zu Ängsten und Depressionen kommt, die oft einhergehen mit körperlichen Symptomen wie Zittern, Unruhe oder diffusen Schmerzen. Außerdem unterliegt das Leben dieser Kinder oftmals deutlichen Einschränkungen, da sie es vermeiden, bestimmte Orte aufzusuchen, Menschen zu treffen, Gespräche zu führen oder Tätigkeiten auszuüben, die sie an die Katastrophe erinnern würden.
Ein typisches Beispiel dafür ist Meiko, der als Zehnjähriger seinen Vater durch das schwere Grubenunglück von Borken verlor. Seine Mutter trauerte sehr um ihren Mann und fühlte sich psychisch und körperlich durch die neue Situation als Alleinerziehende mit zwei Kindern überfordert. Sie hatte abgenommen, schlief schlecht, war nervös und dauernd den Tränen nahe. Den Kindern gegenüber versuchte sie, das Bild der starken Mutter aufrechtzuerhalten. Meiko spürte jedoch, dass die Mutter am Rande ihrer Belastungsfähigkeit angelangt war. Er entwickelte die Angst, nach dem Vater auch die Mutter zu verlieren. Seine Gefühle behielt er für sich, um die Mutter nicht noch mit seinen Sorgen zu belasten. Bei ihr wiederum entstand so nach einigen Wochen der Eindruck, der Sohn habe das Ganze recht gut verkraftet, möglicherweise sei es ihm auch gar nicht so nahe gegangen, wie sie befürchtet hatte. Sonst würde er ja darüber reden.
Nach einiger Zeit stellten sich bei Meiko unerklärlicher Husten und permanente Kopfschmerzen ein. Da die behandelnden Ärzte keinerlei organische Ursachen finden konnten, wurde die Mutter mit ihrem Sohn bei mir vorstellig.
Um mit trauernden und traumatisierten Kindern die schwierige Situation zu umgehen, die in der Regel entsteht, wenn man sie fragt, was sie belastet, und sie dann nicht reden wollen, steht in meiner Praxis ein Kicker. Beim Kickern, wenn die Augen auf den Ball und nicht auf das Gesicht des Psychologen gerichtet sind, fällt es den meisten Kindern viel leichter, von sich zu erzählen. Auch mit Meiko habe ich als Erstes ein paar Runden am Kicker zugebracht. Schnell wurde dabei deutlich, wie sehr er tatsächlich unter dem Verlust des Vaters litt. Er hatte unzählige Fragen, die er seiner Mutter nicht hatte stellen wollen – aus Angst, sie zu sehr zu belasten: Wo der Papa jetzt sei, wie er umgekommen war, warum die Schutzpatronin der Bergleute, die heilige Barbara, denn nicht auf ihn aufgepasst habe und so weiter. Besonders quälend war für ihn die Frage, ob er womöglich am Tod des Vaters schuld sei, weil er kurz vor dem Unglück »so böse« zu ihm gewesen sei.
In unserem Gespräch erzählte er mir, dass er zuhause viel weinen, dies aber immer heimlich in seinem Zimmer oder unter der Bettdecke tun würde. Er wolle nicht, dass seine Mutter das mitbekam, schließlich müsse er ja auf sie aufpassen, weil es ihr so schlecht gehe und er Angst habe, dass auch sie sterben würde. In dem Jungen gärte es förmlich, weil er bislang kein Ventil für den Druck gehabt hatte, der sich in ihm aufgebaut hatte. Diese enorme Belastung war weniger durch das Primärereignis, also den Tod des Vaters, sondern vor allem durch die Situation danach entstanden: durch die Angst, die eigene Trauer gegenüber der Mutter zu formulieren, die Angst vor Fragen und vor allem die Angst um das Wohlergehen der Mutter.
In der Therapie gelang es mir, einige seiner drängenden Fragen zu klären, indem ich ihn vorsichtig mit dem Hergang des Unglücks konfrontierte. Wir besuchten zusammen das Gelände, sprachen mit dem Grubenleiter und betrachteten Fotos von der Arbeit unter Tage. In den anschließenden gemeinsamen Gesprächen mit Mutter und Kind wurde schließlich Schritt für Schritt auf beiden Seiten die Scheu abgebaut, den jeweils anderen mit den eigenen Problemen zu belasten. Die beiden erkannten die Chance, aus der gemeinsamen Trauer wieder neue Kräfte schöpfen und sich gegenseitig stützen zu können. Die positiven Auswirkungen waren rasch spürbar – nicht nur emotional. Es dauerte nicht lange, bis bei Meiko auch der Husten und die Kopfschmerzen verschwanden.
An diesem Beispiel wird deutlich, wie wichtig es ist, bei traumatisierten Kindern genau hinzusehen und nicht vorschnell zu
Weitere Kostenlose Bücher