Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
Seite steht. Wichtig ist dabei, dass die Betroffenen von der Sinnhaftigkeit eines solchen Schrittes überzeugt und motiviert sind, ihre innere Hürde zu überwinden.
Bei der Durchführung solcher Konfrontationen bin ich immer wieder überwältigt von der Intensität der Gefühle der Betroffenen und auch von meiner eigenen emotionalen Beteiligung, die durch diesen schwierigen, aber immens wichtigen Schritt der Traumabewältigung ausgelöst wird. Man spürt auch als Außenstehender die große Anspannung und Kraftanstrengung der Betroffenen, an diesem Ort zu bestehen.
Als ich mit der bereits erwähnten Krankenschwester in ihre Abteilung des Vollzugskrankenhauses gehen wollte, in der ihr Martyrium stattgefunden hatte, zitterte sie bei dem Versuch, eine Tür mit einem großen Schlüssel und entsprechendem Schlüsselloch zu öffnen, so stark, dass es eine ganze Weile dauerte, bis sie es schaffte.
Die Mutter des tödlich abgestürzten Kindes ging zögerlichen Schrittes durch das Haus, aus dem sie ausgezogen war, bis zu dem Balkon, den sie seit dem Sturz ihres Kindes nie wieder betreten hatte. Nach der Aufforderung, dort, wo das Brett sich gelockert hatte, so lange stehen zu bleiben, bis sie sich deutlich beruhigt hatte, stützte sie sich auf das Geländer und begann bitterlich zu weinen. Es schüttelte ihren ganzen Körper, und sie schaute fassungslos nach unten zu der Stelle, wo ihr Kind aufgeschlagen war. Sie brauchte lange Zeit, bis die Tränen versiegten und ihr Körper ruhiger wurde. Nach einem vereinbarten Handzeichen ging ich zu ihr, und sie erklärte mir, dass sie sich jetzt ruhig und stark fühle. Sie freute sich sogar darüber, dass sie nun tröstliche Einzelheiten entdecken konnte: In einer Regenpfütze hatte sie eine Herzform erkannt, das Vogelgezwitscher aus den umstehenden Bäumen habe sie darin bestärkt, dass dies eigentlich ein friedlicher Ort sei.
Für die Erzieherin wiederum waren gleich mehrere Räume der Jugendeinrichtung belastet. Nach dem problematischen Betreten des Hauses durch die Eingangstür folgte das Büro, in dem sie damals gerade einen Bericht studierte, als sie nach unten gerufen wurde. Nachdem sie an beiden Stellen so lange verweilt hatte, dass die Belastung abnahm, kam der für sie schwierigste Schritt: die Küche, der Ort, an dem sie niedergestochen worden war. Sie blieb an der Türschwelle stehen, es war deutlich zu sehen, dass sie heftige Kämpfe mit sich ausfocht. Nach einer guten halben Stunde fragte ich sie, ob sie bereit sei, genau zu der Stelle zu gehen, an der sie nach dem Angriff kollabiert war. Sie wollte es versuchen, aber die Beine versagten ihr den Dienst. Sie war in diesem Moment wie gelähmt, es war ihr unmöglich, einen Fuß über die Schwelle zu setzen. Offensichtlich brauchte ihr Körper noch mehr Zeit, um diesen Schritt zu wagen.
Es ist interessant, wie unser eigener Organismus in solchen Situationen arbeitet, ohne dass wir selbst bewusst etwas tun müssen. Es scheint, als taste er sich langsam durch ein Dickicht, um wieder in Kontakt mit den verloren geglaubten Überlebenskräften zu treten. Man muss ihm nur genügend Zeit geben und ihn vorher mit den nötigen Voraussetzungen ausstatten, sich in dem Dickicht zurechtzufinden. Unser Organismus ist vergleichbar mit einem Menschen, der im Dschungel seinen Weg verloren hat. Ohne Hilfsmittel irrt er umher und kann sich nicht orientieren. Mit einem Kompass, einer Karte, einer Taschenlampe und einer Machete hat er die nötigen Voraussetzungen, den Weg wiederzufinden.
Die Hilfsmittel meiner Patienten bestanden in den vorherigen Therapieschritten: Ohne diese Vorarbeit würde die Erzieherin planlos, extrem belastet und letztlich erfolglos durch das Haus laufen.
Der »im Urwald verlorene Weg« steht hier für das allmählich entstehende Gefühl der Betroffenen, stärker zu sein als alle Angst und alles Unbehagen, das durch einen bestimmten Ort ausgelöst wird. Am Ende trägt die Gewissheit, dass nicht der Ort an sich gefährlich ist, sondern dass hier etwas Trauriges oder Schreckliches geschah. Und dass man die Kraft hat, hier zu bestehen, und sich an das Geschehene erinnern kann, ohne von seinen Gefühlen übermannt zu werden.
Im Fall der Erzieherin kehrte plötzlich die Kraft in den Körper und vor allem die Beine zurück, sie war in der Lage, die Küche zu betreten und sogar bis zu der Stelle zu gehen, an der sie nach dem Messerstich zu Boden gegangen war. Dort fand sie es gar nicht mehr schwer, stehen zu bleiben –
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