Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
ihr Körper hatte die Hauptarbeit längst geschafft. Im Anschluss daran berichtete sie mir, dass sie in ihrer Phantasie den Jugendlichen immer wieder leibhaftig vor sich gesehen hatte, während sie an der Schwelle zur Küche stand. Jetzt, nachdem alles vorbei war, sei auch dieses angstbeladene Bild weg. Etwas ganz Entscheidendes war durch diese Konfrontation zu Ende gegangen: die für viele Traumatisierte typische Vorstellung, das Ereignis sei noch gar nicht abgeschlossen.
Wenn die Betroffenen es geschafft haben, am Ort der Katastrophe zu bestehen, mache ich oft ein Foto von ihnen. Es ist ein »Siegerfoto«, das einen hohen Wert hat. Ich rate ihnen, dieses Foto gut aufzubewahren und es in »brenzligen Situationen«, etwa, wenn sie dazu tendieren, wieder eine schwierige Konfrontation zu vermeiden, als Wegweiser hervorzuholen.
Ein junger Mann, der unverschuldet einen Fußgänger überfahren und tödlich verletzt hatte und unter dem schrecklichen Bild des Gesichts auf seiner Windschutzscheibe litt, berichtete mir nach der Therapie Folgendes: »Immer wenn ich noch einmal schlecht von dem Unfall träume und nicht schlafen kann, gehe ich zu meinem Schrank im Wohnzimmer. Ich hole den Schlüssel, den ich unter der Uhr deponiert habe, schließe auf und hole die Schachtel mit den Fotos heraus, die Sie damals an der Unfallstelle gemacht haben. Die lege ich dann vor mich auf den Tisch, rauche eine Zigarette und schaue sie mir so lange an, bis es wieder gut ist. Dann lege ich die Bilder zurück in die Schachtel, stelle sie in den Schrank, verschließe ihn und lege den Schlüssel unter die Uhr. Anschließend gehe ich ins Bett und schlafe beruhigt ein.«
Es ist, als gebe er einer Pflanze, deren Blätter schlaff herunterhängen, weil er sie lange nicht gegossen hatte (sie symbolisiert in diesem Bild die Überlebenskräfte des Mannes), durch seine selbst gewählte Konfrontation so viel Wasser, bis sich die Pflanze wieder aufrichtet und er sich an ihrem festen Wuchs erfreuen kann.
14. Wie Kinder mit Katastrophen umgehen
Kinder, die von Katastrophen getroffen werden, erzeugen zunächst spontan ein größeres Maß an Aufmerksamkeit und Mitgefühl in der Gesellschaft. Es ist schwer auszuhalten, Bilder von weinenden, verzweifelten Kindern zu sehen, die etwa nach dem Erdbeben auf Haiti im Jahr 2010 vor den Trümmern der zerstörten Häuser umherirrten, in denen ihre Familien umgekommen waren. Emotional an ihre Grenzen geraten viele der Katastrophenhelfer immer wieder vor allem dann, wenn sie sich um Kinder kümmern müssen, die als Einzige ihrer Familie überlebt haben.
Ob ein Kind ein solches Trauma überhaupt bewältigen kann, hängt nicht zuletzt vom Alter ab. Besonders wenn die Traumatisierung während der vorsprachlichen Entwicklungsphase des Kindes geschieht, ist die Schädigung der Psyche sehr tiefgreifend und schwerwiegend. Kinder fallen durch den Schock des Traumas häufig zurück auf eine frühere Stufe der Entwicklung; das heißt, sie verlieren Fähigkeiten, die sie bereits erlangt hatten – zum Beispiel trocken zu sein. Sie entwickeln häufig Ängste, etwa vor der Dunkelheit, vor Monstern oder vor dem Allein-Sein. Sie können durch aggressives oder autoaggressives Verhalten auffallen und leiden oft unter sogenannten somatoformen Symptomen wie Bauch- oder Kopfschmerzen. Auch selbstschädigende Verhaltensweisen wie Drogen- oder Alkoholmissbrauch bei traumatisierten Jugendlichen sind keine Seltenheit.
Grundsätzlich aber habe ich die Erfahrung gemacht, dass Kinder besser und schneller als Erwachsene auf fundamentale Veränderungen ihres Lebensumfelds reagieren können. Veränderung und Entwicklung gehören noch ganz selbstverständlich zu ihrem Leben, sie entdecken jeden Tag etwas Neues, Spannendes und blicken mit großen Augen nach vorne in die Zukunft, nicht nach hinten in die Vergangenheit.
Ein vollkommen anderes Bild ergibt sich allerdings bei Kindern, die eine atomare Katastrophe erleben mussten. Der Unterschied besteht darin, dass bei »normalen« Extremsituationen ein Teil des Lebens der Vergangenheit zerstört wurde, während hier gleichzeitig das zukünftige betroffen ist. Die Strahlenverseuchung großer Landstriche führt dazu, dass viele Menschen aus den unmittelbar betroffenen Gebieten evakuiert werden, Haus und Hof und ihr gesamtes soziales Umfeld verlieren. In Fukushima wurde zunächst eine 20-Kilometer-Sperrzone eingerichtet, die kontinuierlich erweitert werden musste. Die radioaktive Strahlung machte
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