Überleben oder Scheitern: Die Kunst, in Krisen zu bestehen und daran zu wachsen (German Edition)
sich begeistert von dem Vorschlag, mit den anderen Kindern die Gedenkstätte zu besuchen, die inzwischen auf dem ehemaligen Grubengelände errichtet worden war. Dort befindet sich ein großer Bronzering im Durchmesser des ehemaligen Schachts, auf dem alle Namen der Bergleute eingraviert wurden, die im Borkener Braunkohleabbau ihr Leben verloren haben. Sie suchte und fand unter den vielen Namen den ihres Vaters, setzte sich genau an dieser Stelle auf den Ring und blickte mich selig an. Dann begann sie über ihren Vater zu reden. Sie hatte für sich genau den richtigen Moment und die passende Situation gefunden, in der sie über ihren Schmerz sprechen konnte und wollte.
Kinder haben offensichtlich ein sehr feines Gespür dafür, wann sie so gut im Einklang mit sich selbst sind, dass es ihnen möglich ist, sich mit belastenden Erinnerungen zu beschäftigen. Für die Genesung ihrer Seele ist es wichtig, dass sie in diesen Momenten auch einen verlässlichen Gesprächspartner haben.
Diese Fähigkeit des inneren Austarierens können wir von Kindern lernen; wir sollten besser auf uns selbst hören, auf unser Gefühl, das in solchen Situationen ein guter Gradmesser ist. Es gibt Momente, in denen wir innerlich für eine Konfrontation gewappnet sind, und solche, in denen es besser ist, die Dinge ruhen zu lassen. Je älter wir werden, umso kopfgesteuerter werden wir. Wir setzen uns selbst unter Druck, meinen, müssen zu müssen, auch wenn wir uns damit überfordern. Eine intensive Beschäftigung in Phasen, in denen die inneren Voraussetzungen stimmen, ist jedoch sehr viel effektiver.
Keine Angst vor Gesichtsverlust
Eine weitere Besonderheit, die junge Menschen in ihrem Umgang mit traumatischen Erfahrungen auszeichnet, habe ich bei meiner Arbeit in einer Schule erlebt. Nach der Ermordung einer Kollegin taten sich die Lehrer mit der Aufarbeitung der Geschehnisse in der Gruppe recht schwer. Es herrschten Betroffenheit und Sprachlosigkeit, nur wenige waren in der Lage, offen über ihre Gefühle zu sprechen. Für viele Lehrer war es wie das Zugeben einer Schwäche, den Kollegen gegenüber zu äußern, dass sie durch den Mord emotional so verunsichert waren, dass es ihnen kaum gelang, normalen Unterricht abzuhalten. In Einzelgesprächen war das anders; hier konnten sie über alles reden, auch darüber, dass sie innerlich mehr mit der Frage beschäftigt waren, wer von den vor ihnen sitzenden Schülern wohl ebenfalls in der Lage sein könnte, mit einem Messer auf sie loszugehen. Oder dass sie unter bestimmten Traumafolgen litten wie Schlafstörungen und Albträumen. Doch in der Gruppe wollten sich die meisten keine »Blöße« geben.
Die Jugendlichen hingegen sahen die Möglichkeit des Austauschs mit Gleichaltrigen als Chance. Anders als die Erwachsenen waren sie in den Gruppengesprächen offener als im Einzelkontakt. Beim Sprechen über ihre jeweils individuellen Reaktionen nach dem schrecklichen Erlebnis entdeckten sie Gemeinsamkeiten, die sie bestärkten. Sie alle hatten das plötzliche Eindringen des maskierten und bewaffneten Täters in den Klassenraum erlebt, hatten gesehen, wie er mit zwei Messern auf die schreiende Lehrerin eingestochen hatte, wie das Blut an die Tafel spritzte, die Lehrerin sich auf den Flur geschleppt hatte und dort zusammengebrochen war. Sie konnten sich über das Gefühl der tiefen Verunsicherung austauschen, das sie befiel, sobald sie die Schule betraten, über die immer wiederkehrenden Bilder, über ihre Schlafstörungen und Konzentrationsprobleme, über ihre starken Schreckreaktionen, sobald die Klassentür unvermittelt von außen geöffnet wurde, über ihre Schuldgefühle, das Ereignis nicht verhindert zu haben, und das tiefe Misstrauen anderen Schülern gegenüber. Sie erzählten, was sie gedacht und gefühlt hatten, als es passierte, sprachen offen über ihre erlebte Hilflosigkeit und darüber, wie es ihnen nach dem Vorfall psychisch ging. Im Gegensatz zu den Erwachsenen nutzten sie die Gruppensitzungen, um gemeinsam Lösungen für ihre Probleme zu finden. Sie taten das mit großer Motivation und Offenheit, ohne Scheu vor Gesichtsverlust.
Zurück zur Normalität
Und noch etwas können wir von ihnen lernen: Kinder und Jugendliche haben den starken Drang, sich nach einer Phase der intensiven Beschäftigung mit dem Trauma schnellstmöglich auf die »neue« Normalität in ihrem Leben einzustellen. Ein beeindruckendes Beispiel für diese konsequente Anpassungsfähigkeit an neue Lebensumstände und
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