Überlebensübungen - Erzählung
von all den Stimmen, voll von all den Leben, die es schützt, denen es ermöglicht, weiterzuleben.
Und vermutlich wird das Sein des gefolterten Widerstandskämpfers zu einem Sein-zum-Tode, aber es ist auch ein weltoffenes, den anderen zugewandtes Sein: ein Sein-mit, dessen eventueller, wahrscheinlicher, individueller Tod das Leben nährt.
Die Tragweite, die lebendige Wahrheit dieser Überzeugung, die wir an einem Sonntag in Buchenwald geteilt hatten, konnte ich später im Madrider Untergrund verifizieren.
Denn in Madrid, wo ich trotz der beträchtlichen Bemühungen der Polizei der Diktatur nie verhaftet worden war, hatte ich nicht wie früher während der Résistance durch mein Schweigen das Leben der anderen, zumindest ihre Freiheit schützen müssen. Sondern durch ihr Schweigen unter der Folter hatten die anderen meine Freiheit geschützt. In all diesen langen zehn Jahren im Untergrund hatte kein Kämpfer jemals der Polizei irgendein Treffen mit mir erwähnt und nicht den kleinsten Hinweis gegeben, der mich in Gefahr gebracht hätte. Während zehn langen Jahren Untergrund habe ich in Freiheit gelebt – eine Art Höchstleistung oder Rekord, wenn ich den Chroniken und Memoiren jener historischen Zeit Glauben schenken will – dank all diesem Schweigen vieler.
Die Erfahrung der Folter ist also kein egotistisches oder narzisstisches Erlebnis, wie viel Individualität, wie viel Besonderheit sie zwangsläufig enthalten mag. Auch wie viel Unbeschreibbares, das mit der Scham oder dem inneren Stolz zu tun hat. Es ist ebenso eine Erfahrung der Solidarität wie der Einsamkeit. Es ist eine Erfahrung der Brüderlichkeit, ein geeigneteres Wort gibt es nicht.
Erst viele Jahre später habe ich also erfahren, was ihm widerfahren war.
Anscheinend hatte Frager, sagte mir Dr. L., im gegebenen Augenblick von den SS -Leuten verlangt, ihn zu er
schießen. Mit einem ingrimmigen Willen hatte er sich geweigert, gemäß den üblichen Nazi-Verfahren im Bunker von Buchenwald gehängt zu werden. Und mit einer solchen Energie, dass er es durchsetzte, wie ein Soldat standesrechtlich erschossen und nicht wie ein simpler Delinquent gehängt zu werden.
Vier Jahre nach jenen Diskussionen, nach jenen Treffen mit Frager, mit »Tancrède«; vier Jahre nach der Epoche, in der ich wegen der französischen Gestapo von Bonny-Lafont die Rue Lauriston und wegen der deutschen Gestapo im Hotel Majestic die Avenue Kléber mied, betrat ich jeden Morgen diesen ehemaligen Palast, der mittlerweile der provisorische Sitz der UNESCO war.
Dort arbeitete ich in der spanischen Sektion. Mein Abteilungsleiter war ein Schriftsteller: ein politischer Flüchtling natürlich. Zu jener Zeit war die Diktatur Francos noch aus allen Institutionen der Vereinten Nationen verbannt.
José María Quiroga Plá war der Ehemann und Witwer einer Tochter des großen und geheimnisvollen Miguel de Unamuno gewesen, deren Tod er noch Jahrzehnte später poetisch beklagte. Denn vor allem war Quiroga Plá Poet, im Übrigen klassischer Prägung. Sein klangvolles Kastilisch vermied indes allzu viel Schwulst.
Obwohl chronisch krank und regelmäßig mit Insulin behandelt, um die Verheerungen der Diabetes einzudämmen, war er ein fröhlicher, positiver Mensch, dessen unverwüstlicher Humor keine Tabus kannte: weder Gott noch Kaiser, noch Tribun. Für ihn gab es keinen Erlöser!
Er hatte Verdienste, denn er war ein langjähriger, treuer Kommunist. Doch hatte er, besser als viele von uns, seine Aufsässigkeit bewahrt.
Ich meine: seinen kritischen Geist, das genaue Gegenteil des Parteigeists.
Jeden Morgen setzte ich mich in mein Büro in der Avenue Kléber, in ebenjenem Hotel Majestic, das ich früher mied. Eine Sekretärin brachte mir Kaffee, die Dokumente des Tages, das Dossier mit den aus dem Englischen oder Französischen übersetzten Texten, deren spanische Fassung ich durchsehen und gelegentlich korrigieren musste. Ich machte mich sofort an die Arbeit, da ich im Allgemeinen schon am Vormittag mit der Anzahl von Seiten fertig sein wollte, die gemäß den nicht wirklich stachanowistisch zu nennenden Normen für den ganzen Tag vorgesehen waren, damit ich nachmittags ein wenig Zeit zum Lesen hatte oder mit dem einen oder anderen sprechen und durch die verschiedenen Abteilungen der UNESCO schlendern konnte, in denen ich Freunde hatte.
Unsere Büros waren Ende jener vierziger Jahre in den früheren Suiten und Zimmern eingerichtet worden – im Übrigen, außer den Etagen der
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