Überlebensübungen - Erzählung
Direktion, recht notdürftig –, und gelegentlich konnte man noch Spuren ihrer einstigen Hotelbestimmung erkennen.
Wenn ich daher vormittags die Augen von dem durchzusehenden Text hob, kam es vor, dass ich hinter dem klaffenden Loch einer Tür, deren Rahmen verschwunden war, das unpassende Bild einer Badewanne außer Gebrauch mit ihren Krallenfüßen und Jugendstilkurven wahrnahm.
Eine Badewanne der Gestapo, sagte ich mir.
Tatsächlich war der Raum neben meinem Büro, damals voller Regale aus rohem Holz, auf denen sich alte Akten und Archivdokumente stapelten, ein Badezimmer gewesen.
Ich konnte diese ungewöhnliche Wanne, den zwiespältigen Überrest einer Vergangenheit der Qual und des Luxus – wahrscheinlich auch der Wollust – nicht ansehen, ohne mich an »Tancrède« zu erinnern und an seine peinlich genaue Aufzählung der vorhersehbaren Foltern vor vier Jahren.
An jenem Tag hatte ich in der luxuriösen Wohnung an der Porte des Ternes bereits geahnt, dass von alle Martern, die »Tancrède« nannte, die der Badewanne für mich am schwersten zu ertragen wäre. Von Kindheit an – nie habe ich den traumatischen Ursprung dafür herausgefunden, falls es denn einen solchen gab – hatte ich Angst vor dem Ersticken gehabt: jeder Zwischenfall, auch der banalste, belangloseste, der mich daran hinderte, und sei es nur für einen Augenblick, frei zu atmen, rief bei mir Angstzustände hervor, manchmal regelrechte Anfälle.
Aufmerksam hörte ich »Tancrède« zu, ich sah, dass die blonde junge Frau fast in Ohnmacht fiel, als er, lässig und präzise, daran erinnerte, dass die Typen der Gestapo üblicherweise in die mit eiskaltem Wasser gefüllte Badewanne Küchenabfälle, verfaulte Gemüsestrünke, sogar Exkremente warfen, bevor sie den Kopf des Häftlings in dieses ekelerregende Wasser tauchten, und ich sagte mir, dass das sicherlich die am schwersten zu ertragende Folter wäre.
Und so war es: mehr ist dazu nicht zu sagen.
Zurückgeblieben ist eine absolute, endgültige Phobie vor kollektivem Baden, jugendlichen Wasserspielen, bei denen einem aus Spaß der Kopf unter Wasser getaucht wird. In diesem Fall habe ich bestimmt keinen Spaß, eher Mordgelüste.
Aber das ist nicht schlimm: man kann ohne weiteres überleben, wenn man das fröhliche kollektive Baden meidet, um keine unerklärbaren Wutanfälle zu kriegen.
»Wer nämlich in der Folter vom Schmerz überwältigt wird, erfährt seinen Körper wie nie zuvor. Sein Fleisch realisiert sich total in der Selbstnegation …«
Jean Améry hat diesen Gedanken mit unwiderlegbarer Genauigkeit formuliert, in einem Essay über die Folter, der in der Aufsatzsammlung Jenseits von Schuld und Sühne veröffentlicht wurde.
Jean Améry war ein ungewöhnlicher, bemerkenswerter Schriftsteller. 1912 in Wien geboren, mit wirklichem Namen Hans Mayer, ausgebildeter Philosoph, emigrierte er 1938, im Jahr des Anschlusses, der Annexion Österreichs durch Hitler, nach Belgien.
Und in Belgien, anagrammatisch zu Jean Améry geworden, wurde er wegen Widerstands von der Gestapo verhaftet. In der traurig berühmten Festung von Breendonk gefoltert, wird Mayer-Améry als Jude nach Auschwitz deportiert.
Jean Amérys Texte über seine Erfahrung in den Lagern haben keine narrative Form, sondern die Form einer hellsichtigen, streng philosophischen Reflexion ohne jede
Selbstgefälligkeit. Sie gehören, woran meiner Meinung nach kein Zweifel erlaubt ist, zum Fundus der wichtigsten Lektüren über das Universum der Konzentrationslager.
Wer nämlich in der Folter vom Schmerz überwältigt wird, erfährt seinen Körper wie nie zuvor …
In Auxerre, in der Villa der Gestapo, kannte ich diese Bemerkung von Jean Améry natürlich nicht. Ich habe seine Texte erst Jahrzehnte später gelesen. In Auxerre erinnerte ich mich an »Tancrèdes« Beschreibungen, ich konnte ihre Richtigkeit verifizieren. Ich hatte keine Ahnung von Jean Améry, aber ich hätte meine Erfahrung jener Tage, jener Wochen mit denselben Worten formulieren können: tatsächlich erfuhr ich meinen Körper wie nie zuvor.
Ich würde eher sagen: in Auxerre, in der Villa der Gestapo, unter der Folter ist mir die Realität meines Körpers wirklich bewusst geworden. Vorher bildeten mein Körper und ich eine ununterscheidbare Einheit: ich war mein Körper, ohne es zu wissen. Und er war ich. So sehr war mein Körper ich, dass er nicht für sich existierte. Vor jenen langen Verhörtagen bestand keine Distanz zwischen meiner
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