Überlebensübungen - Erzählung
Bindungen zur Welt sich vermehren, sieht, wie die Gründe seines Heimischseins in der Welt Wurzeln schlagen, sich verzweigen, wuchern.
In Auxerre, in der Villa, deren Garten die Herbstrosen mit Duft erfüllten, hat mich jede Stunde Schweigen, die ich den Schergen von Dr. Haas, dem lokalen Chef der Gestapo, abtrotzte, in der Gewissheit bestärkt, gerade heimisch zu sein in der Welt.
Die mir gehörte. Oder vielmehr: der ich angehörte.
Jede dieser gewonnenen Schweigestunden, das konnte ich mühelos feststellen, machte die Typen der Gestapo fieb
riger, benommener. Jede gewonnene Stunde bereicherte mich also und brachte sie selber um die Güter dieser Welt – machten sie noch ärmer, die armen Typen, die sie eh schon waren!
Aber Ende der vierziger Jahre hatte ich Jean Améry nicht gelesen, als ich die Badewanne der Gestapo in der Avenue Kléber sah, in dem zum provisorischen Sitz der UNESCO gewordenen ehemaligen Hotel Majestic.
Gewiss tauchten Erinnerungen auf, kamen ungeordnet wieder an die Oberfläche. Die Rosen im Garten der Villa von Auxerre. Die etwas schlaffen, weibischen Gesten des jüngsten Folterers, auch des perversesten. Die Goldzähne von Dr. Haas. Der verzweifelte Blick von dessen junger Sekretärin. Doch das alles war flüchtig, sogar ziemlich leicht. Ich war nicht darauf gefasst. Es war eine Zeit meines Lebens, in der ich mich gern – und bereitwillig – von meiner jüngsten Vergangenheit löste. Ich verlernte diese Vergangenheit, machte mich methodisch von ihr frei. Da es mir nicht gelungen war, sie in Ordnung zu bringen, ihr eine Perspektive zu geben in einer Erzählung, die sie bewohnbar gemacht hätte, musste ich sie vergessen, um leben zu können. Ober überleben, wieder aufleben zu können: ich überlasse Ihnen die Wahl des Verbs.
Es gelang mir prächtig. Zu vergessen, meine ich; ich schrieb erst sehr viel später, als die Zeit des Wiedererinnerns gekommen war.
Damals hatte ich das Hotel Majestic und die UNESCO verlassen. Nicht nur weil man dort das Franco-Regime anerkannt hatte, 1952. Sondern vor allem, weil ich ein
»Permanenter« des politischen Apparats der spanischen KP geworden war und ich mich auf eine erste illegale Reise nach Spanien vorbereitete.
In Madrid habe ich mich, seit dieser ersten Reise, die im Juni 1953 stattfand, oft an die Badewanne der Gestapo erinnert.
An die echte natürlich, jene, die ich in Auxerre kennengelernt hatte, nicht an die allegorische Wanne des ehemaligen Hotels Majestic, Avenue Kléber, über die man mit einer Spur Provokation oder Prahlerei hätte lachen können.
Zehn Jahre lang begannen meine Tage, wenn ich in Madrid war, in jeder meiner illegalen Wohnungen immer auf die gleiche Weise: ich rasierte mich sorgfältig, ich sah mein Gesicht im Spiegel des Waschraums, und ich ließ in Gedanken alle meine Treffen des Tages Revue passieren. Ich schrieb sie natürlich niemals auf. Und noch weniger in verschlüsselter Sprache, denn das im Fall einer Festnahme vorhersehbare Verhör wäre, hätte man diese Art Notizen bei mir gefunden, umso brutaler gewesen.
Daher musste ich in meinem Gedächtnis Dutzende von Treffen unterbringen, die sich über manchmal mehreren Wochen dauernde Zeiträume erstreckten … Ich rasierte mich und ging im Gedächtnis die Treffen des Tages durch.
Doch einige von ihnen waren lange vorher vereinbart worden. Der betreffende Aktivist, von dem ich seit unserer letzten Begegnung nichts mehr gehört hatte, konnte verhaftet worden sein. Nicht immer erfuhr man so
fort von der Verhaftung eines Aktivisten, wenn dieser zum harten Kern der Verantwortlichen des Sektors oder des Viertels gehörte. Außerdem hielt die Polizei Verhaftungen zuweilen geheim, um keinen Alarm auszulösen. Infolgedessen gab es jeden Tag – zumindest fast jeden Tag – vorgesehene Kontakte, vereinbarte Treffen, bei denen ich, angesichts der objektiven Beschränkungen der illegalen Organisation, unmöglich sicher sein konnte, dass sie nicht der Polizei der Diktatur zu Ohren bekommen waren.
Vielleicht war der Aktivist, den ich zu einer bestimmten Uhrzeit irgendwo treffen sollte, inzwischen verhaftet worden. War er gefoltert worden? Hatte er unter der Folter geredet? Hatte er das kommende Treffen preisgegeben?
So konnte ich jeden Tag bei dem einen oder anderen der vorgesehenen Kontakte auf Beamte der politischen Polizei stoßen.
Am Gitter des Retiro-Parks zum Beispiel, zwischen dem Unabhängigkeitsplatz und dem monumentalen Tor der Straße, die den Namen
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