Überlebensübungen - Erzählung
ein kaltblütiger Mensch ist und die Ruhe bewahrt, sieht dem Inspektor ins Gesicht und fragt: »Sehe ich wirklich aus wie eine Frau?« Verwirrung des Bullen, Entschuldigungen. Er geht weg, wobei er murmelt, dass irgendwo ein Irrtum vorliegen müsse! Es kommt ihm nicht einmal der Gedanke, ein solcher Ausweis könne falsch sein. Diesmal verlässt der illegale Aktivist die Familienpension, sobald der Polizist verschwunden ist, lässt seine Sachen da und macht sich aus dem Staub.
Ich werde diese Chance natürlich nicht haben. Die Beamten der politischen Polizei, die heute, wenn ich verraten worden bin, an diesem oder jenem Treffpunkt auf mich warten, werden sich nicht mit meinen Papieren zufriedengeben, so echt sie aussehen mögen. Sie werden sich nicht verziehen und mich in Frieden lassen. Sie werden mich augenblicklich zur Puerta del Sol bringen, zu
den Büros der Generaldirektion der Geheimpolizei, für ein erstes Verhör.
In dem Wagen, der mich zu den Zellen der Puerta del Sol bringen wird – die ich mir gut vorstellen kann, die ich kenne, als wäre ich schon dort gewesen, derart zahlreich sind die detaillierten Berichte der Genossen, die sich dort aufgehalten und mir davon erzählt haben –, in dem Wagen werden die Polizisten zu schlagen anfangen, und sei es nur, um in Schwung zu kommen, sich in Stimmung zu bringen, um mir klarzumachen, wozu sie fähig sind. Aber der Platz reicht nicht aus, um wirklich zuzuschlagen und dafür Abstand zu nehmen; das wird nicht schwer zu ertragen sein.
Erst später wird es ernst.
Aber ich bin bereit, ich habe mich auf diesen Augenblick vorbereitet. Ich denke jeden Morgen daran, während ich mich sorgfältig rasiere. Zehn Jahre lang, in der gesamten Zeit meines illegalen Lebens in Spanien, habe ich daran gedacht.
Ich sah das Reiterstandbild von General Franco.
Aus einem Wohnungsfenster im ersten Stock an der Plaza de San Juan de la Cruz sah ich das Reiterstandbild von General Franco.
Es war Ende 1962 und das Ende meines letzten illegalen Aufenthalts in Spanien.
Das Reiterstandbild von General Franco erhob sich auf einer Art Seitenallee am Fuß der trübselig modernen Gebäude des Viertels der Neuen Ministerien. Zur Zeit, als das Viertel diesen Namen erhielt, waren diese Gebäude
tatsächlich neu. Dieses neue Verwaltungsviertel war unter der Republik, vor dem Bürgerkrieg, also Mitte der dreißiger Jahre, gebaut worden. Damals gab es natürlich kein Standbild von General Franco: weder zu Pferd noch zu Fuß. Es hatte mehrerer Hunderttausend Tote bedurft, damit Franco in ganz Spanien ihm gewidmete Statuen und Triumphbögen bekam. Doch als dieses neue Viertel in der Verlängerung der Avenida Castellana in Madrid gebaut wurde, war General Franco lediglich einer kleiner Minderheit von Spaniern bekannt. Zwar wusste diese Minderheit bereits, dass Franco im Ruf der Grausamkeit stand, den er sich während des Rifkriegs in Afrika erworben hatte. Und der sich 1934 in Spanien selbst während der brutalen Unterdrückung des utopischen, sicher ungerechtfertigten Aufstands der asturischen Bergarbeiter bestätigte. Aber schließlich geizte das damalige Spanien nicht mit grausamen Generälen. Franco war lediglich einer der am kaltblütigsten grausamen, der in ihrer gemeinsamen Brutalität entschlossensten. Er hat es gleich nach seiner Erlangung des Postens eines Generalissimus reichlich unter Beweis gestellt. Denn er wurde Generalissimus, Caudillo Spaniens durch die Gnade Gottes , verkündete das staatliche Geld auf einer seiner Seiten. Zu der Zeit, als diese Standbilder, zum größten Teil Reiterstandbilder, in ganz Spanien errichtet wurden, gab es auf der Welt nur drei Generalissimi: Stalin, Chiang Kai-shek und Franco selbst!
Jedenfalls befindet sich das Reiterstandbild des Generalissimus vor meinen Augen, auf der andern Seite des Platzes.
Ich bin in der Wohnung von Ángel Gonzáles, einem guten Dichter und guten Genossen, in Madrid an der Plaza de San Juan de la Cruz. Es ist Winter, aber der Himmel ist blau, von einem unter der Sonne dichten, tiefen Blau, dem Anilinblau der Kindheit.
Morgen wird nicht weit von hier ein Wagen parken. Ich werde auf die Sekunde genau zur genannten Zeit am vereinbarten Treffpunkt sein. Ich kenne den Fahrer des Wagens, ich werde mich hineinsetzen. Wir werden ein paar kurze Sätze wechseln, es gibt nicht viel zu sagen, alles klappt, nichts Verdächtiges zu melden, wir können losfahren. Jean D., den ich seit unserer fernen Jugend »Petitjean« nenne,
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