Überlebensübungen - Erzählung
Seele – meinem Willen, meinen Wünschen, sogar meinen Launen – und diesem verfügbaren, stets zur Anstrengung oder zur Entspannung fähigen Körper.
In Auxerre hatte ich, rückblickend, den Eindruck gehabt, niemals einen Körper gehabt zu haben. Als sei ich die Verkörperung des Schmerzes, als ließe mich dieser zusammen mit meinem Körper auch seine Zerbrechlich
keit, sein Elend, seine Endlichkeit entdecken. Ich habe meinen Körper so stark erfahren, dass er gewissermaßen eine getrennte – vielleicht autonome – gefährlich autonome – Entität, gleichsam ein Anders-Sein wurde. In bestimmten Momenten sogar noch mehr: ein feindseliges Für-sich, ein Feind der Idee des Ichs, das ich mir gewählt hatte, als Erbe und als Projekt.
Ich habe meinen Körper also erfahren wie nie zuvor. Gewiss im Schmerz, in der schwer zu kontrollierenden Panik der Eingeweide, im bestialischen Wunsch nach Kapitulation. Tu trembles, carcasse , sagte ich mir, die berühmten Worte wiederholend, mais tu tremblerais bien plus, si tu savais où je vais te mener …
In jenen Tagen hatte ich die Möglichkeit, zu verifizieren, wie sehr die Beschreibung, die »Tancrède« uns gegeben hatte, mit der Realität übereinstimmte. Zuerst tatsächlich der Schlagstockeinsatz. Dann das Aufhängen an einem zwischen die Handschellen geschobenen Seil. Wobei in diesem Fall das Schlimmste war, mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt zu sein: dann hat man, wenn man hochgezogen wird, den Eindruck, auseinandergenommen, für immer gevierteilt zu werden. Die Badewanne war das letzte Stadium der Behandlung, der ich, ergebnislos, unterzogen wurde, bevor man mich plötzlich vergaß wie eine für unter Arbeitsüberlastung leidende Gestapo nutzlos gewordene Bürde.
Wochen später erinnerte man sich wieder an mich, als es um die Deportation nach Deutschland ging.
Auf der von »Tancrède« geschilderten progressiven Stufenleiter erlebte ich also weder die Stromschläge noch die
Folter der ausgerissenen Nägel. Daher kann ich unmöglich wissen, ob ich widerstanden hätte, wie ich bis dahin durchgehalten hatte.
Wie dem auch sei, ich halte Jean Amérys Satz über die Offenbarung des Körpers unter der Folter für absolut zutreffend. Unbestreitbar stellt der den Behandlungen der Gestapo unterworfene Widerstandskämpfer in diesem Augenblick fest, dass sein Fleisch sich total in der Selbstverleugnung realisiert .
Ein anderer Satz von Améry dagegen scheint mir völlig ungerechtfertigt, sogar unverständlich zu sein.
Im selben Essay behauptet er nämlich: Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung lässt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortur eingestürzte Weltvertrauen wird nicht wiedergewonnen …
Ich verstehe nicht, was er meint!
Da ist ein Mann von einunddreißig Jahren, Hans Mayer-Améry, hellsichtig und entschlossen, ins Exil zu gehen, der in der Absicht vor dem Nazismus flieht, den Kampf fortzusetzen; der im Widerstand engagiert war, als er in seinem Asylland, Belgien, von der modernen Barbarei eingeholt wurde; und dieser Mann sieht durch den ersten Schlag, den er beim ersten Verhör der Gestapo erhält, sein Weltvertrauen eingestürzt?
Entweder hat das nichts zu bedeuten und ist nur eine Phrase, oder dieses Vertrauen, das mit einem Schlag einstürzt, war blind für die Realitäten der Welt, taub für die Schreie dieser Realität. Es war ein naives, engelhaftes,
letztlich infantiles Vertrauen, das in keiner Weise Amérys erwachsenem, kämpferischem Verhalten entsprach.
In diesem Satz, wenn er wirklich gedacht worden ist, zeigt sich der Widerschein einer tiefen persönlichen Wunde, einer entsetzlichen Verzweiflung, eines inneren Geheimnisses, das plötzlich aufbricht, brutal, unergründlich.
Für mich zumindest, denn ich weigere mich, es zu ergründen.
Meine persönliche Erfahrung sagt mir nämlich das genaue Gegenteil. Meine persönliche Erfahrung lehrt mich, dass nicht das Opfer, sondern der Henker – falls dieser davonkommt, wenn er in einem späteren, sogar anonymen und scheinbar friedlichen Dasein überlebt – in der Welt nie mehr heimisch werden wird, was immer er darüber sagt, welchen Anschein er sich auch gibt. Das Opfer dagegen, und nicht nur, wenn es die Folter überlebt, sogar während dieser, sieht, auf sein Schweigen gestützt, in allen Zwischenräumen mit den willkommenen Atempausen, wie seine
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