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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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meines Großvaters, Antonio Maura, trug, konnte ich durchaus plötzlich von Polizisten umringt sein. Oder diese konnten zur angegebenen Zeit bei dem betreffenden Aktivisten auf mich warten, wenn ich bei ihm zu Hause verabredet war. Oder im Prado-Museum, vor diesem oder jenem Meisterwerk. Ich hatte eine Vorliebe für Die Überfahrt in die Unterwelt von Joachim Patinir; die Polizisten hätten mich im Saal der flämischen Malerei vor diesem Bild erwarten können: das wäre der Gipfel gewesen!
    Ich rasierte mich also, ich rief mir die Treffen des Tages ins Gedächtnis, ich ließ diejenigen beiseite, bei denen das Risiko einer Verhaftung minimal oder zu vernachlässigen war – jedoch nie gleich null –, und konzentrierte mich auf diejenigen, bei denen mit dem Schlimmsten zu rechnen war. Dann stellte ich mir mögliche Vorgehensweisen vor. Ich würde frühzeitig am Treffpunkt sein, um die Atmosphäre des Viertels einzuatmen. An der Theke eines nahe gelegenen Bistros je nach Tageszeit ein Bier oder einen Kaffee trinkend, würde ich den Gesprächen lauschen, würde das Kommen und Gehen beobachten, würde versuchen, verdächtige Autos oder Personen in der Umgebung zu entdecken.
    Wenn der Aktivist unter der Folter zusammengebrochen wäre, wenn er gestanden hätte, dass er sich demnächst an diesem oder jenem Tag um diese oder jene Uhrzeit mit einem Leiter der Partei treffen sollte – einige, allerdings sehr wenige, hätten den Namen dieses Leiters verraten können, Federico Sanchez selbst, den die Polizei schon seit so vielen Jahren vergeblich suchte –, in einem solchen Fall hätte es wahrscheinlich ein Polizeiaufgebot gegeben, das ich möglicherweise allein dadurch hätte erkennen, überraschen können, dass ich zu früh gekommen wäre, nur um den Alltagstrott des Viertels einzuatmen.
    Ich stellte mir also, anhand der Topographie des Treffpunkts, mögliche Vorgehensweisen vor.
    Aber ich musste eine Alternative einplanen: vielleicht gelänge es mir nicht, die Polizeipräsenz zu entdecken! Das war eher unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Ich musste mir also das Schlimmste vorstellen, mich darauf
vorbereiten: auf die auf mich gerichteten Waffen, die Durchsuchung, die ersten Schläge, die ersten Fragen.
    Die Polizei wird falsche Papiere bei mir finden. Gewiss, sehr gut gefälschte. Täuschend echt, zum Verwechseln ähnlich. Im Übrigen haben sich die franquistischen Polizisten häufig getäuscht. Jedenfalls wäre ich im Fall einer routinemäßigen Passkontrolle niemals verdächtigt, niemals festgehalten worden. Ich hätte in aller Ruhe weitergehen können. Weder ich noch irgendeiner der illegalen Kader der PCE wären jemals abgefangen worden. Denn wir verfügten über eine außerordentlich effiziente Fälscherwerkstatt, die überdies von einem wirklichen Künstler geleitet wurde.
    Manchmal sah ich Domingo M. zu, der sich hingebungsvoll auf seine Aufgabe konzentrierte, eine Fälschung herzustellen, die wahrer war als die Wahrheit. Manchmal sah ich ihn in einer seiner versteckten Werkstätten im Montparnasse-Viertel oder in einem Vorort im Süden von Paris oder in irgendeinem Hotelzimmer eines östlichen Landes, wohin er seinen Zauberkoffer mitgebracht hatte, an einem jungfräulichen Personalausweis oder Pass arbeiten, der zu neu, zu schön war und deshalb dubios wirkte, und den er so lange knetete, bis er die Gebrauchsfalten, die unanfechtbare Patina des Alten, des Authentischen bekam. Mit Hilfe von Pulvern, Wachsarten, Farben unterschiedlicher Herkunft, Punzen, trockenen oder feuchten Stempeln sah ich ihn unter seinen phantastischen Fingern Ausweispapiere jeglicher Art hervorzaubern, deren Unechtheit kein Polizist je hätte vermuten können.
    So führte an einem Tag in den fünfziger Jahren die Madrider Polizei in einer Familienpension eine Routinekontrolle durch. Unter den Mietern befand sich ein junger illegaler Kader der PCE . Sein Ausweis wird geprüft und erregt anscheinend keinerlei Argwohn. Nach dieser Routinekontrolle verlässt die Polizei die Örtlichkeit. Der betreffende Genosse bleibt da, zieht nicht vorsichtshalber sofort aus, wie es vernünftig gewesen wäre. Und am nächsten Tag ist die Polizei wiedergekommen. Der Inspektor vom Vortag erklärt dem illegalen Aktivisten, im Übrigen sehr verlegen, man habe bei der Überprüfung der Codenummer des Ausweises, den er vorgelegt habe, feststellen können, dass er eine Person weiblichen Geschlechts bezeichne. Der Aktivist, der sicherlich unvorsichtig war, aber

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