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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wird um den Brunnen der Plaza de San Juan de la Cruz herumfahren und links zur Nordausfahrt von Madrid abbiegen, Richtung Burgos und französische Grenze.
    Es ist Ende 1962 und das Ende meines letzten illegalen Aufenthalts in Madrid.
    Seit einiger Zeit war innerhalb des Politbüros der PCE eine Diskussion im Gange. Anfangs über konkrete Probleme, die zweitrangig erscheinen konnten – die Agrarfrage zum Beispiel, die Frage unserer Strategie gegenüber den in Spanien so differenzierten bäuerlichen Schichten –, und zum ersten Mal wurde die unumstrittene, fast rituelle Einstimmigkeit von einer Abstimmung im Politbüro durchbrochen, wodurch eine Mehrheit und eine Minderheit entstand: Letztere war natürlich winzig, da sie nur aus zwei Mitgliedern bestand, aus Fernando Claudín und mir selbst. Oder vielmehr Federico Sanchez. Besagte Diskussion drehte sich sodann um ideologische
Fragen und betraf schließlich das Wesentliche unserer Kampftaktik in Spanien, desgleichen die Analyse der stalinistischen Vergangenheit der UdSSR und die Frage der Beziehungen der spanischen Partei zur kommunistischen Bewegung im Allgemeinen und zur sowjetischen Partei im Besonderen.
    Da Santiago Carillo dramatisierte, worum es bei der Diskussion ging; da er die Einheit der Führungsgruppe für unumstößlich erklärte; da er jede Abweichung von der Analyse als spaltendes Verbrechen darstellte, gelang es ihm am Ende der folgenden Monate mit zuweilen brutaler, zuweilen hinterhältiger Hartnäckigkeit, die Meinungsverschiedenheiten oder Zweifel, die im Politbüro entstanden, einzudämmen und uns beide, Claudín und mich, in den Führungsgremien der PCE zu isolieren.
    Aber darauf werde ich nicht zurückkommen.
    Es ist eine Geschichte, die niemanden mehr interessiert. Ich meine: wirklich interessiert, leidenschaftlich empört, die Gewissheiten oder die Routine der Gedanken in Frage stellt. Alles, was den Kommunismus und die kommunistischen Parteien in der Welt angeht, ist Vorgeschichte. Dass es, davon bin ich überzeugt, in der Diskussion des spanischen Politbüros Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts – es ist Vorgeschichte, ich sagte es ja! – zumindest im Keim, zweifellos in noch verschwommener, undeutlicher Form, um den Kern der Probleme ging, an denen einige Jahre später das revolutionäre Unternehmen der leninistischen Tradition zerbrochen ist, interessiert nur noch die Historiker. Und selbst dazu bedarf es verdammt spezialisierter Historiker!
     
    Neulich jedoch – und wenn ich neulich sage, handelt es sich nicht um eine rhetorische Formulierung, um eine recht einfache und ungeschliffene Weise, die narrative Rede in eine zeitliche Ordnung zu bringen; tatsächlich beginnt erst neulich, vor ein paar Tagen, in diesem Monat Juli 2005, die Niederschrift dieser Geschichte, entwickelt sich diese Reflexion, entfaltet sich dieses Gedächtnis wieder –, neulich jedoch, in einem Pariser Omnibus der Linie 63, einer sehr praktischen Linie, jedenfalls für mich, denn auf der Fahrt durch Paris von Osten nach Westen, oder umgekehrt, durchquert sie Viertel, in denen ich oft zu tun habe, und ist überdies meines Wissens – aber ich bin ein regelmäßiger Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel, und mein Wissen ist umfangreich – eine der wenigen Linien, die klimatisierte Fahrzeuge einsetzt, was in diesem Monat Juli überaus schätzenswert ist, neulich also, zwischen den Haltestellen Saint-Guillaume und Saint-Germain-des-Prés, und die Reihenfolge, in der ich diese Haltestellen aufzähle, wird, wenn man darauf geachtet hat, verständlich machen, dass ich an jenem Tag von Westen nach Osten fuhr, habe ich also plötzlich eine Hand auf meiner Schulter gespürt. Ich bin nicht zusammengezuckt, habe mich nicht ruckartig umgedreht, um auf alle Fälle die Stirn zu bieten. Es war eine brüderliche Hand. Eine Hand, die nicht auf meiner Schulter lastete, die sich nicht schwer machte, deren Finger nicht brutal meine Schulter drückten, sondern sie freundschaftlich berührten. Kurz, es war nicht die Hand eines Polizisten oder eines Feindes: ganz im Gegenteil, eine brüderliche Hand, das ist die beste Definition. Ich habe mich
also langsam umgedreht, ohne zusammenzuzucken, ohne mir übermäßig Sorgen zu machen. »Sie sind Jorge Semprun«, sagte man mir mit singender Stimme, einer Stimme aus den Antillen, sie ist leicht zu erkennen. Es war die singende Stimme eines langen Kerls aus Martinique mit graumeliertem Haar. Übrigens war auch der

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