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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Schnurrbart graumeliert. Er hatte die Hand auf meiner Schulter liegen lassen. Ich habe mit einer Geste zugestimmt. Nicht, dass ich immer sicher bin, derjenige zu sein, dessen Name dieser lange Kerl im besten Alter gerade genannt hatte, aber schließlich ist es eine gesellschaftliche Übereinkunft, die man hinnehmen muss. Wäre ich in einem Madrider Bus gewesen – aber in Madrid nehme ich nie den Bus! –, hätte mir jemand in Madrid die Hand auf die Schulter gelegt, und angenommen mir hätte jemand gesagt: ¿Es usted Jorge Semprun? , dann hätte ich meine übliche Antwort gegeben, denn es ist eine Frage, die mir auch in Madrid gestellt wird, obwohl ich keinen Bus nehme – und im Übrigen werde ich in Madrid im Grunde genommen eher gefragt, ob ich Federico Sanchez bin –, aber meine übliche, vorbereitete Antwort ist in beiden Fällen dieselbe, und sie ist ziemlich lakonisch: Eso dicen  … »So sagt man.« Eine Antwort, die den doppelten Vorteil hat, präzise, positiv und gleichzeitig distanziert zu sein, ironisch distanziert. So sagt man, in der Tat, aber ich sage nichts, lassen Sie es sich gesagt sein! Wenn man für die Nuancen der Sprache empfänglich ist, und das ist man auch in Madrid, erhalte ich häufig, Sie werden es nicht glauben, abschließend ein einfaches Kopfnicken, eine ausgestreckte Hand, einen verschwörerischen Blick,
und das ist alles. Und völlig ausreichend. Denn es ist nicht möglich, ein wirkliches Gespräch mit allen Leuten zu beginnen, die einen in den öffentlichen Verkehrsmitteln erkennen, nicht einmal auf der Straße!
    Aber ich war nicht in Madrid, ich war in einem klimatisierten Bus der Linie 63, in Paris, kurz nach der Haltestelle Saint-Guillaume, und der lange Kerl aus Martinique ließ die Hand auf meiner Schulter, es störte mich nicht, es war eine brüderliche Hand; und ich habe seiner Frage, die eher eine Bestätigung oder eine einfache Feststellung war, mit einer Handbewegung zugestimmt, und er sagte etwas Unvorhergesehenes, sogar Unvorhersehbares, einige völlig unerwartete Worte: »Sie haben doch das Vorwort zum Buch von Claudín über die kommunistische Bewegung geschrieben«, und es stimmte, ich hatte dieses Vorwort geschrieben, aber das war so lange her, über dreißig Jahre! Er erinnerte sich sehr gut, er sprach über das Vorwort und das Buch selbst, vor allem über Claudíns Buch, dessen Namen er sehr korrekt aussprach, als könnte er spanisch, aber warum sollte er nicht spanisch können?, und ich war zwar überrascht, aber auch erschüttert, ja, in Wahrheit eher erschüttert, dass dieser lange Kerl im besten Mannesalter – man sagt das häufig von jemandem, ich weiß nicht, warum, er sei im besten Mannesalter, wenn die Manneskraft gerade im Begriff ist, ihn zu verlassen, aber das war bei dem langen Kerl aus Martinique nicht der Fall, er war wirklich im besten Mannesalter –, dass er von diesem Vorwort sprach, das alle Welt vergessen hatte, als Erstes ich selbst. Denn es war nicht möglich, dass er mich wegen dieses vergessenen Vor
worts erkannt hat, das in bibliographischer Hinsicht belanglos ist, er hat mich wohl aus einem ganz anderen Grund erkannt, wegen des Fernsehens vielleicht, wegen der Reihe von Sendungen, die ich mit Francis Girod und Olivier Barrot gemacht habe, oder vielmehr die sie mich haben machen lassen, oder wegen eines Buchs, Die große Reise und Schreiben oder Leben sind die Bücher, die von den Leuten, die mich im Bus oder in der Metro oder einfach auf der Straße ansprechen, am häufigsten genannt werden; doch was auch der wirkliche Grund des Erkennens gewesen sein mag, der lange Kerl aus Martinique hatte sich entschieden, über das Vorwort zum Buch von Claudín zu sprechen, worüber ich erschüttert war, und wir hatten ein wenig über den Essay, über die kommunistische Bewegung und über diese Bewegung selbst gesprochen, es war ein anrührendes, ein wenig irreales Gespräch, und am Ende konnte ich nicht umhin, mit derselben Brüderlichkeit, mit der er seine Hand auf meine Schulter gelegt hatte, ihm den Arm drückend, zu sagen: »Das sind alte, vergessene Schlachten …« Und er hat den Kopf geschüttelt, energisch, konnte jedoch nicht leugnen, dass diese Schlachten alte Schlachten waren, es gab keine kommunistische Bewegung mehr, keine Schlachten mehr, nichts mehr! Was also mochte er mit dieser kategorischen Geste negieren? Dass sie vergessen waren, das negierte er, und er hatte sogleich sein Empfinden präzisiert: »Aber diese Schlachten

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