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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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beschatten, aber nicht eingreifen solle, was immer geschehe, dass er lediglich die Namen aller Personen notieren solle, die ich träfe. Das war alles: die Polizei wollte wissen, wen ich in Madrid aufsuchte.
    Nach meinem Ausschluss aus der PCE hatte ich im spanischen Konsulat von Paris um einen Pass nachgesucht. Jahrelang hatte man mir diesen Pass verweigert, aber ich ließ nicht locker, bat auch Freunde – an erster Stelle Luis Miguel Dominguín, den berühmten Torero, Bruder eines Aktivisten, der mir sehr nahestand und für mich wichtig war, Domingo –, sich für mich einzusetzen, was er im Übrigen ohne zu zögern tat. Drei Jahre später bestellte mich das spanische Konsulat plötzlich ein und teilte mir mit, dass sie die Erlaubnis hätten, mir einen Pass zu geben. Er müsse mir allerdings, sagte der Beamte, der mich empfing, eine Warnung aus Madrid übermitteln: auf eigene Gefahr. Por su cuenta y riesgo … Ich erklärte dem Konsul, ich hätte mein Leben lang alles auf eigene Gefahr getan, also nichts Neues: los, er solle ihn rausrücken, diesen verdammten Pass!
    Im Grunde wunderte es mich nicht, bei meinen Aufenthalten in Spanien überwacht worden zu sein. Allerdings überraschte mich, dass diese Beschattung – die im Übrigen diskret und geschickt war, ich habe nie etwas bemerkt – so lange dauerte, fast fünf Jahre.
    Gut, ich wusste genug, ich habe diesen Polizeiinspektor weggeschickt.
    Und kommt ein paar Minuten später wieder auf mich zu. Er ist nicht mehr allein, er wird von einem älteren Mann begleitet, dessen Gesicht mir etwas sagt. Ich habe den Eindruck, dieses Gesicht schon einmal in der Presse oder im Fernsehen gesehen zu haben. Ein Gesicht, das mir etwas sagt, das Erinnerungen wachruft: im Übrigen eher unangenehme.
    Der Inspektor lässt mich nicht lange im Zweifel, im Unklaren über einen unangenehmen Eindruck.
    »Herr Minister, ich stelle Ihnen Kommissar B. vor.«
    Er ist sichtbar glücklich, einander zwei Persönlichkeiten vorzustellen: einen Minister und einen berühmten Kommissar am Ende seiner Karriere.
    Denn Kommissar B. ist eine Persönlichkeit. Er war der letzte Chef der politischen Polizei, der berüchtigten »sozialen Brigade« der Franco-Diktatur. Aufgrund seiner unleugbaren Kompetenz im Kampf gegen den Terrorismus der ETA hatte die spanische Demokratie ihn von Anfang an mit dem Status eines Beraters des Nachrichtendienstes weiterhin diskret verwendet.
    Kommissar B. sieht mich an. Ich bedenke ihn mit demselben kalten Blick, demselben Schweigen.
    Doch dem Inspektor mit dem spanischen Schnurrbart gelingt es nicht zu schweigen. Er ist wie immer redselig.
    »Ich erklärte gerade dem Minister, Herr Kommissar, dass meine erste berufliche Arbeit darin bestand, ihm zu folgen …«
    Der andere unterbricht ihn, mich weiter ansehend. Er hat ein sonderbares Funkeln in den Augen.
    »Ja«, sagt er schroff. »Der Minister ist jemand, dem wir oft gefolgt sind …«
    Ich schicke mich an, ihm zu widersprechen, aber er kommt mir zuvor, lässt mir nicht die Zeit dazu.
    »Ich meine: jemand, dem wir oft zu folgen versucht haben!«
    Er setzt alles dran, das Wort »versucht« zu betonen: intendado .
    Mejor dicho: alguien que hemos intentado seguir mucho.
    Wir standen uns noch immer gegenüber, wir sahen uns noch immer in die Augen.
    »Kommissar«, sagte ich ihm, »das ist das beste Kompliment, das man mir machen kann … Jedenfalls das mir liebste!«
    Aber es durfte sich nicht in die Länge ziehen. Vor allem durfte er sich nicht einbilden, wir beide könnten ein friedliches Gespräch führen. Der Übergang Spaniens zur Demokratie hatte, unter anderen Ursachen, den doppelten Beweggrund, die doppelte – zumindest im Augenblick – außerordentlich wirksame, fruchtbare Motivation der Amnestie und der Amnesie, beide aus der Tiefe des Volkswillens emporgestiegen.
    Doch in diesem Augenblick wollte ich nichts vergessen. Auch nichts verzeihen.
    »Kommissar, Sie können gehen«, habe ich ihm gesagt.
    Ich habe ihm den Rücken gekehrt und habe mich an Ángel González erinnert, den guten Dichter und guten Genossen. Ich habe mich an die letzten Stunden von Madrid in seiner Gesellschaft erinnert, im Jahr 1962. Ich habe mehr Erinnerungen, als wär ich tausend Jahre alt , sagte ich mir. In gewisser Weise ist es ein Glück: solange die Erinnerungen herbeiströmen, schlägt noch das Herz.
    So werde ich von meinem zwanzigsten bis zu meinem vierzigsten Lebensjahr regelmäßig mit der Möglichkeit einer Verhaftung

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